Gedanken zum Karsamstag 2020

Gedanken zum Karsamstag 2020 – von Pfarrer Andreas Strauch

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diese Worte aus dem 22. Psalm hat Jesus, so erzählen es die Evangelisten Markus und Matthäus, am Kreuz gerufen.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diese Frage steht auch über dem Karsamstag, dem Tag der Grabesruhe Jesu. In diesem Jahr mögen manche sie besonders drängend empfinden – nicht erst heute am Karsamstag. Vielleicht konzentriert sich das Gefühl der Gottverlassenheit heute aber besonders.

Der Karsamstag ist ein stiller, ein ruhevoller Tag. Ein Tag, an dem man sich der Leere, der Verlassenheit, der Einsamkeit aussetzen kann und darf, ja vielleicht sogar sollte. In diesem Jahr allerdings haben viele darin schon Übung.

Diese unfreiwillige Übung über nun schon mehrere Wochen, dieser Tage im bewussten Mitgehen des Weges vom Gründonnerstag bis zu Ostern, heute am Karsamstag womöglich besonders konzentriert und intensiv empfunden, kann uns öffnen für die Erfahrung, dass wir all dies nun eben doch nicht sind: Wir sind nicht leer, nicht einsam, nicht verlassen. Letztlich nicht, auch wenn wir’s derzeit, im Moment, anders empfinden.

Neu dürfen wir die Nähe und die Fülle Gottes empfangen. Dazu ist es gut und heilsam, sich bewusst dafür bereit zu halten.

Ganz verlassen war Jesus am Kreuz nicht: „Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.“ (Lukas 23,49).

Der Evangelist Lukas erzählt immer wieder von Frauen, von den Jüngerinnen, den Freundinnen Jesu – und von seiner Mutter Maria.

Frauen waren auch bei Jesu Grablegung zugegen, so erzählt es auch der Evangelist Lukas (23, 55.56): „Es folgten aber die Frauen nach, die mit ihm gekommen waren aus Galiläa, und sahen das Grab und wie sein Leib hineingelegt wurde. Sie kehrten aber um und bereiteten wohlriechende Öle und Salben. Und den Sabbat über ruhten sie nach dem Gesetz.“

Sie wollten Jesus ihr letztes Liebeswerk erweisen, seinen Leichnam mit wohlriechenden Ölen und Salben versehen.

Man mag auch an die Frau denken, von der Lukas weiter vorne in seinem Evangelium erzählt (gemeinhin die große Sünderin genannt – Kapitel 7), die Jesus die Füße küsste und mit Salböl salbte: Zeichen der hingebungsvollen, verschwenderischen Liebe. Umgekehrt hatte Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen und ihnen das Gebot der Liebe mitgegeben, wie der Evangelist Johannes erzählt (Kapitel 13).

Diese Öle und Salben also hatten die Frauen vorbereitet, um dann auch zur Ruhe zu kommen, um sich unterbrechen zu lassen, selbst im Dienst der Liebe.

Sie heiligten so den Sabbat, den Ruhetag Gottes, nicht nach seiner Schöpfung, sondern als Abschluss seiner Schöpfung – dieser geschenkt.

Segen liegt über diesem Ruhetag: „Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.“ (1. Mose 2, 3)

Der Tag der Grabesruhe Jesu war der Sabbattag, der gesegnete Ruhetag. Als ob Gott neu Atem holte. Als ob sein Heiliger Geist die Ruhe durchweht und belebt.

„Siehe, ich mache alles neu!“ So heißt es in der Offenbarung des Johannes (21, 5) nach der Verheißung Gottes, die der Seher gehört hatte: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Offb. 21, 4)

Der Ruhetag kann verstanden und begangen werden als Tag der Vorbereitung der Neuschöpfung Gottes: Leben wird neu erblühen, die Freude des Neubeginns keimt auf.

Wir spüren den Neuanfang Gottes oft gar nicht so recht. Und die Frauen? „Aber am ersten Tag der Woche sehr früh kamen sie zum Grab und trugen bei sich die wohlriechenden Öle, die sie bereitet hatten.“ (Lk. 24, 1)

Die Frauen machten weiter, wo sie aufgehört hatten, sie taten den nächsten Schritt – hin zum Grab – und waren doch längst Teil des umwälzenden Neuanfangs Gottes, des Ostergeschehens.

Die orthodoxen Kirchen nennen den Karsamstag den „Großen Sabbat“, den „heiligen Sabbat“. In ihm reift Ostern.

Uns kann der Karsamstag bereit machen für Ostern, für die Auferstehung, für neues Leben.

Wir wissen nicht, wann wir in unser gewohntes Leben zurückkehren können und dürfen. Ich frage mich allerdings auch, inwieweit es überhaupt das gewohnte Leben sein kann.

Neues Leben ist uns verheißen!

Ob das auch eine Abkehr von Schritten und Wegen sein kann, die der Menschheit, ja Gottes Schöpfung als Ganzer erkennbar nicht gutgetan haben, nicht guttun? Und was bedeuten und wohin führen andere, neue Wege für uns vor Ort, die wir in weltweite Zusammenhänge unlösbar eingebunden sind und doch auch unser Leben in unserem überschaubaren Nahbereich verbringen und gestalten?

Stille ist nicht Stillstand. Die Ruhe dient der Rekreation, wörtlich: der Neuschöpfung. Diese aber dürfen wir an uns geschehen und uns in sie mithineinnehmen lassen, also: uns von Gott auf den Weg des neuen Lebens setzen, uns von seinem Heiligen Geist leiten lassen.

Gott hat seinen Sohn Jesus Christus aus dem Tod auferweckt, das feiern Christen zu Ostern und im Gefolge von Ostern jeden Sonntag neu.

Sabbat und Sonntag. Ruhe, Rekreation, Auferstehungsfreude, neues Leben kommen zusammen. In der Abfolge des Karsamstags und des Ostermorgens zeigen sich unsere von Gott geschenkten Kräfte aufs äußerste verdichtet, die unser Leben halten, tragen und voranbringen können.

Auch wenn Angst und Sorge, Einsamkeit und Verlassenheit, Elend und Armut, Gewalt und Krieg, Flucht und Grenzen, Krankheit und Schmerzen, Niederlage und Verlust, Not und Tod, Tränen und Trauer vor Augen stehen – Gottes Weg führt uns weiter als unser Blick reicht. Dafür möge der Karsamstag uns offenhalten: Ostern steht wieder bevor.

Längst ist es Ostern geworden, und doch müssen wir immer wieder warten, manchmal lange, dieses Jahr bestimmt lange, auch über Ostern hinaus, aber nicht endlos lange! Halten wir den Karsamstag, die spannungsreiche Ruhe aus, halten wir uns bereit für das neue Leben!

Wie wird dieses Ostern uns verändern – hin zu Gott, zu seiner Schöpfung, zu unseren Nächsten, nah und fern? Wie werden wir uns selbst vorfinden – und neu finden?

Gedanken zum Gründonnerstag

Gedanken zum Gründonnerstag – von Pfarrer Andreas Strauch

Jesus nimmt Abschied von seinen Jüngern mit seinem letzten Mahl – vor den Stunden der Einsamkeit, der Angst und der Verlassenheit. Sein Abschied ist wohlgeordnet. Jesus konnte seinen Abschied bewusst erleben, ja sogar selbst gestalten.

Es war vorhersehbar, was dann kam, es musste ja geradezu so kommen. Bei aller Freiwilligkeit hatte der Weg Jesu etwas Zwangsläufiges: Wer sich so rückhaltlos der Liebe verschrieb, sie nicht nur lehrte, sondern auch lebte, wer auf diese Weise eine Welt der Lieblosigkeit empfindlich und nachhaltig störte, sie auch als solche entlarvte, der durfte nicht mit allgemeiner freundlicher Gegenliebe rechnen.

Die wurde ihm von einzelnen durchaus zuteil, aber nicht von der Menge, letztlich nicht einmal von allen seinen Jüngern und Anhängern, jedenfalls nicht ungebrochen: Auch Judas, der ihn verraten, übergeben sollte, auch Petrus, der ihn verleugnen und somit auch verraten sollte, saßen mit Jesus am Tisch.

Jesus zog den Hass vieler geradezu auf sich, absorbierte ihn gleichsam, nahm ihn auf sich und von anderen weg, als wollte er dem Hass den Nährboden entziehen, so dass nichts mehr davon für die Menschen untereinander übrigbleibt – nur noch Raum für die Liebe.

Jesus gestaltete seinen Abschied also bewusst, und seine Jünger durften ihn miterleben. Er schenkte ihnen noch einmal das Zusammensein mit sich.

Was er ihnen als Vermächtnis mitgab, war nicht etwa eine Lehre des Meisters. Er schenkte vielmehr sich selbst, seine Liebe, die immer für andere da war: „für euch gegeben“. Sie sollte bleiben. Brot und Kelch deutete er auf sich selber. In ihnen ist Jesus gegenwärtig. Das ist sein Vermächtnis. Leibhaftig. Zum Anfassen. Zum Schmecken.

Die Jünger sollten fortan nicht mehr mit Brot und Wein zusammenkommen können, ohne an ihn zu denken, ohne ihn unter sich zu wissen. Jesus hat sich aus der Gemeinschaft der Menschen nicht herausdrängen lassen. Dafür hat er gesorgt mit dem, was er seinen Jüngern zum Abschied schenkte: sich selbst: im Brot, im gefüllten Kelch.
Mochte er auch sterben müssen am nächsten Tag – das blieb. Das bleibt.
Mochte sich auch – trotz seiner Auferstehung – die Hoffnung auf seine baldige Wiederkehr nicht erfüllen, bis heute nicht – das blieb.
Jesus bleibt und ist da. Er ist dabei, wenn Menschen das Abendmahl feiern.

Die Erinnerung an ihn will weitergegeben werden. Deswegen sagt der Apostel Paulus, bevor er den Korinthern Jesu Einsetzungsworte in Erinnerung ruft, dass er, Paulus, selber in einer Kette der Erinnerung, des Empfangens und Weitergebens steht: „Denn ich habe von dem Herrn empfangen, was ich euch weitergegeben habe“ (1. Kor. 11, 23).

Auch Christenmenschen heute stehen in dieser Erinnerungs-, Empfangs- und Weitergabekette, wenn sie als Gemeinde das Abendmahl feiern und sich zum Abendmahl einladen lassen.

Die Gastgemeinschaft, die wir so genießen können, ist auf Jesus selbst, den Gastgeber ausgerichtet. Deswegen ist es möglich, dass so viele, so unterschiedliche Leute nebeneinander in Gemeinschaft stehen und verbunden sind, unabhängig davon, ob sie sich sonst gut kennen oder nicht, ob sie sich mögen oder nicht. Wie die einzelnen Gäste sonst zueinanderstehen, ist bei der Feier des Abendmahls unerheblich, braucht nicht zu interessieren und auch nicht zu belasten.

Jedem, jeder einzelnen und somit allen hat sich Jesus geschenkt. Das hält eine Gemeinde, die Kirchen, die Christenheit zusammen – und braucht auch darüber hinaus keine Grenzen zu errichten. Dieses Wissen des Glaubens mag übrigens auch helfen, wenn Menschen, wie derzeit, nicht zusammenkommen können, auch wenn sie es gerne würden.

In der Feier des Abendmahls wird schon etwas vorweggenommen, worauf wir, wie alle christlichen Kirchen und Gemeinden, hoffen und warten: der wirklich umfassende Frieden der Menschen untereinander und miteinander.

Der Karfreitag ist der Tag, an dem uns der Unfrieden, die maroden Lebensbedingungen, die zerstörerischen Verhältnisse und zerstörten Beziehungen, in denen Menschen miteinander und mit Gott, dem Schöpfer ihres Lebens und ihrer Lebensgrundlagen, leben, besonders schmerzlich bewusst wird.

Im Abendmahl wird für eine kurze Weile, über die kurze Dauer des Festes, das Wirklichkeit, was eben noch nicht die generelle, umfassende, andauernde Wirklichkeit unseres Lebens ist: Friede unter den Menschen und mit Gott. Echte, verlässliche, vertrauenswürdige Gemeinschaft.

Menschen lassen einander gelten, fühlen sich nicht bedroht, fürchten nicht ihre Verschiedenheit, erfreuen sich sogar daran, sorgen sich umeinander, lassen niemanden arm werden oder bleiben, lassen ihr Leben in der Liebe aufgehen und erfahren von daher Erfüllung, Gelingen, Segen. Wenn das Leben auf dieser Erde doch so wäre!

Im Vollzug der Feier des Abendmahls werden wir auf unsere menschliche Bestimmung hin verwandelt und finden uns wieder als Vollbürger des Reiches Gottes, als ob wir schon in ihm lebten. Die Feier des Abendmahls zielt in ihrem Moment schon auf die Überwindung des Unvollkommenen, Fragmentarischen, das unser Leben noch bestimmt: hin zur ganzen, ungetrübten Fülle des Lebens von Gott und mit Gott. Das glänzende Licht der Ewigkeit Gottes leuchtet auf; die liturgische Farbe des Gründonnerstages – ein Tag vor dem Tod Jesu – ist weiß! Das Abendmahl ist ein Hoffnungsmahl.

Es kann und will uns tiefen Frieden geben, mit Gott, mit unseren Mitmenschen, mit uns selbst: Ruhe, Reinigung, Neuanfang. Gleichzeitig wird es uns aber auch in heilsame Unruhe versetzen. Denn es lässt den Stachel der Unvollkommenheit, der Lieblosigkeit, des Egoismus, der Undankbarkeit, der Behäbigkeit unseres Lebens schmerzlich spüren.

Es müssen eben nicht alle Unterschiede, gerade auch nicht die sozialen Unterschiede, die Unterschiede von arm und reich einfach als gegeben und letztlich unveränderbar angesehen und hingenommen werden. Das ist es, was Paulus den Korinthern, den Bewohnern der Hafenstadt mit erheblichen sozialen Spannungen, kritisch ins Bewusstsein ruft: Die Übersättigten, Saturierten, sollten den Armen, Hungrigen und Bedürftigen kein Ärgernis sein, indem sie ihre Überlegenheit herausstellten und so die Unterschiede kränkend unterstrichen. – Das gibt es auch heute noch, es kann sich sogar im Umgang europäischer Länder mit anderen ärmeren, hilfsbedürftigen europäischen Ländern ereignen, vielleicht nicht bewusst und nicht willentlich, aber es kann doch so aufgenommen werden.

Warum schenkt sich Jesus denn gerade bei einem Mahl mit Essbarem, Trinkbarem, sichtbar, fühlbar und zu schmecken in Brot und Wein? Es ist das und steht dafür, was unbedingt im Leben notwendig ist. Solange Menschen dies nicht selbstverständlich zukommt, wird das Geschenk des Abendmahls uns auch beunruhigen müssen.

Wenn sich Jesus selbst schenkt, sich „für euch“ gibt, dann ist das ja der Jesus, der die Liebe lebte, die Liebe selbst war und ist, der sich treu blieb, aber nicht bei sich selbst blieb, der da war für andere, sich für sie verzehrte, aufopferte, sich ihnen ganz hingab.

Wenn wir sein Geschenk, ihn selbst empfangen, stehen auch wir in der Kette von Empfangen und Weitergeben.

Nach den Einsetzungsworten schreibt Paulus: „Denn sooft ihr von diesem Brot esst und von dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1. Kor. 11, 26)

Aus Empfangenden werden Gebende, Verkündigen kann man in Worten und in Taten. Eingeladen sind alle, ob eher bedürftig oder zu geben in der Lage. Die meisten Menschen sind ja beides. Das Geheimnis des Abendmahls ist, dass es uns öffnen kann: für die Liebe Christi, die wir empfangen und mit offenen Augen, Ohren und Händen weitergeben können.

In diesem Jahr leben wir von der Erinnerung an das Abendmahl. Hoffen wir, dass wir es bald wieder in leibhaftiger Gemeinschaft feiern dürfen.

Dietrich Bonhoeffer

von Pfr. Ralf Arnd Blecker

Am morgigen Gründonnerstag 2020 ist es genau 75 Jahre her: Man schrieb den 9. April 1945 als der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer im KZ-Flossenbürg gehängt wurde. Was mit seiner Leiche gemacht wurde, weiß man nicht. Es gibt kein Grab. Der Häftling Bonhoeffer gab zu bedenken, man müsse heute in der Welt leben, „als ob es Gott nicht gäbe“. Gott ist da in dieser Welt, aber nicht als majestätischer Herrscher, sondern als Leidender, er ist als Ohnmächtiger da, dienend. Gott leidet mit seiner Welt mit, er gibt sich hin und verwandelt damit die Not. Viele Menschen kennen Bonhoeffers Gedicht „von guten Mächten“. Es wird gern in Gottesdiensten und häufig bei Bestattungen gesungen. Weniger bekannt als sein Gedicht von den guten Mächten ist:

Wer bin ich?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle

gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern

frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks

gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,

hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?

Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler

und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

Oder gleicht, was in mir ist, dem geschlagenen Heer,

das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

(DB, Widerstand und Ergebung. Neuausgabe, 381f)

1943 formulierte Bonhoeffer folgendes Glaubensbekenntnis:

„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.

Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“

(DBW 8, 30f)

Eine zweite Andacht in der besonderen Passionszeit 2020

Eine zweite Andacht in der besonderen Passionszeit 2020 – von Pfarrer Andreas Strauch

Eine weitere Woche liegt bald hinter uns, in der alles so anders ist, in der man sich an vieles gewöhnen muss, an das man sich schwer gewöhnen möchte oder kann.

Der Wochenspruch für die fünfte Woche der Passionszeit (ab dem Sonntag Judika), die jetzt ausklingt, lautet: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern das er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung als Lösegeld für viele.“ (Mt. 20, 28)

Der Wochenspruch verdeutlicht einmal mehr den Zuspruch des Evangeliums. Der Zuspruch läuft jedem Anspruch voraus.

Bevor Christenmenschen überlegen, abwägen und entscheiden, was sie als solche tun können, ist für uns etwas getan worden: Gutes, Lösendes. Wir dürfen Erlösung erfahren von Spannungen und Verkrampfungen, von Enge und Angst, von Druck und Nötigung, von Gewissensqualen und Schuld. Jesu Leben und Sterben lässt sich als Dienst verstehen, der Menschen von dem befreit, was sie niederdrückt und gefangen nimmt. Jesu Leben und Sterben ist Dienst, um Menschen zum Leben zu verhelfen.

Gehören christlicher Glaube und Dienen zusammen, zeigt sich gelebter Glaube auch an Dienstbereitschaft und praktischer Dienstausübung?

Vorsicht: Dienen kann problematisch sein. Wenn es nämlich den anderen nicht wirklich guttut. Mit Dienen kann man auch unguten Einfluss auf andere ausüben, sich ihrer bemächtigen, sie abhängig oder gefügig machen. Dienen kann verkapptes Herrschen sein oder werden.

Dennoch möchte ich das Gute und Lebensförderliche des Dienens nicht so schnell aus dem Blick verlieren. Ich meine schon, dass es dem Miteinander von Menschen, sei es im Familien- oder Freundeskreis, im Dorf, im Stadtteil oder auch im gesamtgesellschaftlichen Rahmen, guttut, wenn der Dienst-Gedanke eine maßgebliche Rolle spielt.

In unserer Alltagssprache ist er unauffällig präsent in Wörtern wie Dienstplan, Dienstkleidung, Dienstbesprechung, auch: Dienstauftrag, ja sogar: Dienstaufsicht. Immer schwingt noch mit, dass Arbeit bzw. Berufsausübung auch dienenden Charakter, dienende Funktion hat. Menschliche Arbeit kommt somit anderen zu gute. Inzwischen hat sich die Bezeichnung Dienstleistungsberuf durchgesetzt; der Dienstleistungssektor spielt in unserem Wirtschaftsleben eine immer bedeutendere Rolle. Vieles hat sich da stetig zum Guten hin verändert: Auf guten Service (= Dienst) legen Kunden wie Bürger Wert, und Firmen wie Geschäfte können damit punkten, genauso wie Ämter und Behörden. Entsprechend empfindlich reagieren wir, wenn wir den Service vernachlässigt sehen.

Wir alle leben vom Dienst anderer. Niemand kann ganz darauf verzichten. Das merken wir derzeit ganz besonders.

Es kommt sogar vor, dass wir davon leben, dass andere ihr Leben für uns einsetzen. Oft sind das Katastrophenhelfer, Feuerwehr, Rettungsdienste, Polizei. Jedenfalls gehen sie in bestimmten Gefahrensituationen ein nicht unerhebliches Risiko für sich selbst ein, um anderen zu helfen, sie zu retten oder zu schützen, eben: ihnen zu dienen.

Derzeit haben wir eine ganz besondere, für uns neuartige und außergewöhnliche Gefahrensituation, die uns bedroht, einengt, ängstigt, verstört, aber auch zur Besinnung kommen lässt, Kreativität freisetzt, neue Wege aufzeigt und unserem Glauben, unserer Hoffnung wie unserer Liebe Gelegenheiten gibt, sich zu bewähren und nicht unterkriegen zu lassen.

Es liegen jetzt zwei Wochen weitgehenden Kontaktverbotes hinter uns und drei Wochen, in denen Schulen und Kindergärten ihren regulären Betrieb nicht fortführen konnte.

Viele Menschen geben sich in anstrengendem Dienst und bewundernswertem Einsatz für andere hin, um für sie da zu sein, ihnen zu helfen, für ihr Leben zu kämpfen, zu heilen, zu pflegen und auch um vorzusorgen, damit dies auch weiterhin möglich bleibt. Ich nenne hier noch einmal viele dieser Menschen, die uns zumeist ja gar nicht persönlich bekannt sind, wie ich es schon in meiner Andacht in der letzten Woche getan habe, und erweitere die Aufzählung dabei noch ein wenig, ohne auch jetzt Vollständigkeit erreichen zu können:

Denken wir also wieder und erneut dankbar an die Menschen, die in den Krankenhäusern und Altenpflegeheimen Dienst tun für die ihnen anvertrauten Menschen, die bis zum Limit und bis zur völligen Erschöpfung arbeiten und doch wissen und sich, so gut wie irgend möglich, darauf vorbereiten, dass es noch mehr und noch härter werden kann und vielfach auch werden wird: z.B. in New York ganz besonders, aber auch sonst vielerorts, ja im Grunde überall auf der Welt, nach wie vor z.B. auch in Italien, Spanien und Frankreich. Es sind Menschen, die mit dem Tod leben! Denken wir ebenso an die Menschen, die unsere tägliche Versorgung aufrecht halten, unter erheblichem Einsatz, unter enormen Mühen und Anstrengungen, z.B. in den Supermärkten an den Kassen oder Ladenregalen, z.B. in den LKWs auf den Autobahnen und Landstraßen. Denken wir ebenso an die Menschen, die organisatorisch tätig sind: in den Behörden und Bildungseinrichtungen unseres Landes, dabei auch an die Menschen, die in Schulen und Kindergärten auch für die Notbetreuung sich zur Verfügung stellen, auch an Wochenenden und den bevorstehenden Feiertagen, um Kinder zu betreuen, deren Eltern sich eben in unverzichtbarer Weise dafür einsetzen, dass unsere Gesellschaft lebens- und handlungsfähig bleibt. Denken wir auch an die Menschen, die forschen und beraten: in den einschlägigen Instituten und an den Universitäten und Kliniken. An die Menschen, die Entscheidungen treffen und vertreten, erklären und verantworten müssen: die Menschen in der Politik: auf Kommunal-, Kreis- und Landesebene, im Miteinander der Bundesländer, im Bund, im Miteinander der europäischen Staaten. An die Menschen in den seriösen Medien, die uns zuverlässig und umfassend, ausgewogen und kritisch informieren.

Sie alle und viele mehr geben sich mit aller Kraft für andere hin. Wir leben von ihrem Dienst und ihren Diensten, von ihrem Engagement, ihrem außergewöhnlichen, nicht selbstverständlichen Einsatz, den wir in anderen Zeiten leicht übersehen oder nicht angemessen zu würdigen wissen.

Etliche Menschen haben jetzt mehr Zeit frei als vorher und deswegen spontan umgesattelt, um zu helfen, wo sie jetzt gebracht werden: eine Frisörin räumt jetzt Regale im Supermarkt ein, Studierende fahren warmes Essen an alte Menschen aus.

Es gibt aber auch viele Menschen, Unternehmer, Selbständige, Betreiber von Restaurants oder Cafés etc., die von existentiellen Sorgen erdrückt werden, die – trotz staatlicher Hilfen – nicht wissen, wie es mittel- oder langfristig weitergehen kann, weil Einnahmen wegbrechen und Kosten bleiben. Ihr Dienst ist eingestellt, ihre Verantwortung für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie für ihre Familien und für sich selbst aber bleibt.

Erinnern möchte ich auch an die „Ärzte ohne Grenzen“, die so gut oder so recht und schlecht, wie es eben unter den schlimmen Bedingungen geht, den Menschen in den Flüchtlingslagern auf den Inseln in der östlichen Ägäis helfen, die fast vergessen scheinen und weiterer Hilfe dringend bedürfen, um aus ihrer Lage befreit zu werden.

Und wer hilft derzeit den Menschen in Indien, die auf der Flucht aus den Städten in ihre Heimatdörfer sind und vielfach schon gar nicht mehr aus der Stadt herauskommen? Wer kann ihnen helfen?

Vergessen wir sie alle jedenfalls nicht in unseren Gebeten, gerade diejenigen nicht, die der Gefahr so hilflos ausgeliefert sind! Denken wir auch an die vielen Kranken und Schwerkranken in unseren Gebeten, an diejenigen, die wir persönlich kennen und denen wir in Sorge und in Liebe verbunden sind, und auch an die vielen, die meisten anderen, die wir nicht persönlich kennen.

Unsere Gebete sind ein Dienst, den wir alle leisten können und dem wir auch etwas zutrauen dürfen!

Wie gesagt: Es ist jetzt die Zeit, die unserem Glauben, unserer Hoffnung wie unserer Liebe Gelegenheiten gibt, sich zu bewähren und nicht unterkriegen zu lassen. Gebete sind genuine Praxis des christlichen Glaubens. Stiller Dienst für andere! Unsere Gebete lassen uns sicherlich auch auf weitere Ideen kommen, wie und wo und wem wir helfen, dienen können.

Mögen wieder Zeiten kommen, die uns nicht so belastend vorkommen (oft liegt dies allerdings nur daran, dass wir die Belastungen der Zeit und der Welt nicht so stark wahrnehmen oder an uns heranlassen, weil sie weiter von uns weg sind oder scheinen und weil wir uns besser von ihnen fernhalten oder abschotten können).

Auch wenn es nicht immer so extrem kommen mag und wieder besser für uns und für viele werden wird, wenn hoffentlich wieder so etwas wie normaler Alltag kommen wird – die Einsicht bleibt doch: Indem andere für uns arbeiten, uns dienen, setzten sie etwas ein von sich. Zeit, Kraft, Geld. Eltern für ihre Kinder. Kinder für ihre alten Eltern. Und auch die Berufsarbeit ist oft faktisch Einsatz für andere, Dienst eben. Ich finde es wichtig und hilfreich, dies sich bewusst zu machen und es auch zu bejahen: Dienst aus innerer Stärke und aus freiem Willen heraus zu tun. Und aus Dankbarkeit für alle Dienste anderer, von denen wir leben.

Vor allen Erwartungen an unsere Dienstleistungen steht der große Dienst, der für uns getan wurde. Jesu Dienst an und für uns. Der Einsatz seines Lebens – aus reiner Liebe. Damit wir doch letztlich unbeschwert, unbelastet, erlöst leben können – der beste Grund und Antrieb, sich für andere einzusetzen, wie, wo und wann wir gebraucht werden und wir’s können.

Andacht in der besonderen Passionszeit 2020

Andacht in der besonderen Passionszeit 2020 – von Pfarrer Andreas Strauch

Die erste Woche erheblicher Einschränkungen im persönlichen Miteinander liegt weitgehend hinter uns. Jeden Tag kommen neue Nachrichten über uns, die meisten sehr beunruhigend, etliche auch tröstend und ermutigend, und gleichzeitig richten wir uns in unserem kleinen Kosmos zuhause ein – mit vielen guten Gedanken an Menschen, die wir jetzt nicht treffen, nicht sehen, nicht von Angesicht zu Angesicht erleben können – und mit bangen Gedanken an Menschen, um die wir uns sorgen. Wegen der aktuellen Bedrohung oder aus anderen Gründen. Es sind und werden ja auch sonst Menschen krank oder schwerkrank. Auch in diesen Tagen! Wir denken an Menschen und können sie nicht sehen, jedenfalls nicht persönlich. Wir können sie nicht treffen, nicht besuchen, nicht empfangen.

Es bleiben aber die anderen Möglichkeiten, die jetzt eine ganz neue Bedeutung und Wertschätzung erfahren: Telefonieren, da hört man sich jedenfalls, Video-Treffen oder Skypen, da sieht man sich sogar auch noch, und das gute alte Schreiben: nicht nur Kurznachrichten, sondern auch Längeres: per E-Mail oder per Brief. Auch beim Schreiben ist man sich nahe, weil man intensiv aneinander denkt, in einen Dialog eintritt und ihn führt, weil Raum und Zeit für die eigenen Gedanken an den anderen Menschen eröffnet werden.

Jemand sagte mir diese Woche: „Man lernt sich selbst jetzt ganz neu kennen.“ Dies kann ja durchaus eine Chance sein. Wie man sich wiederfindet im Leben, in der vorhandenen Zeit, der Zeit, die uns immer gegeben ist, die wir jetzt aber möglicherweise um einiges bewusster wahrnehmen, weil sie neu und anders, als wir es gewohnt sind, gefüllt werden will und muss, gefüllt werden darf und kann.

Diese Zeit jetzt ist Passionszeit. Zeit des Erleidens. Zeit, die nicht nur aktiv gestaltet wird, sondern in die wir gestellt sind und die etwas mit uns macht. Die etwas an uns geschehen lässt.

Die zweite Hälfte der Passionszeit hat begonnen, letzten Sonntag, am 22. März. Da war der vierte Sonntag der Passionszeit, der vierte von sechs Sonntagen: Der vierte Sonntag heißt Lätare (deutsch in etwa: Freut euch) und ist seit alters her eine Aufhellung in der Passionszeit. Gelegentlich wird er „Klein-Ostern“ genannt. Er hält eine wichtige Erinnerung wach: Die Passion ist nicht das Ende, sondern sie führt zu Ostern. Der Tod ist nicht das Ende, er führt zum Leben. Aber wo entsteht Leben aus dem Tod?

Wir leben, auch jetzt, Gott sei Dank, aber wir nehmen wahr, wie so Vieles um uns wenn auch nicht erstarrt, so aber doch zum Erliegen kommt. Und wir hören vom Tod. Immer wieder und immer mehr. Tag für Tag. Und wollen retten, was zu retten ist, Aufhalten, Verlangsamen, Durchbrechen, Aushalten. Und Hoffen. Wir wollen leben, wir wollen Leben retten.

Der Wochenspruch der nun zu Ende gehenden Woche, der Woche, die mit dem Sonntag Lätare begonnen hat, handelt vom sterbenden und Frucht bringenden Weizenkorn: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. (Johannes 12, 24)

Das Wochenlied zu „Klein-Osten“ nimmt dieses Bild aus dem Wochenspruch auf. In unserer hessen-nassauischen Ausgabe des Evangelischen Gesangbuches ist es als letztes der Passionslieder (Nummer 98) abgedruckt. Es markiert den Übergang. Direkt gegenüber findet sich schon das erste Osterlied.

Es ist ein schönes, eindrückliches Lied, das wir in unseren Gottesdiensten oft und gerne singen. Melodie, Sprache, Bilder gehen unmittelbar ein. Nehmen Sie sich ruhig mal das Gesangbuch zur Hand, schlagen das Lied auf, lesen, meditieren den Text, und lesen und summen Sie die Melodie. Oder Sie trauen sich, es für sich alleine zu singen.

„Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt,/ Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt -“, so beginnt die erste Strophe. Aus dem sterbenden Korn erwächst der Keim. Er dringt hervor in den Morgen: Zeit des Erwachens, in der sich Leben neu regt, Zeit des Aufstehens, Zeit der Auferstehung. Am Morgen, dem Übergang von der Nacht zum Tag, liegt noch alles vor uns. Der Übergang schenkt den Neuanfang.

Was aber stirbt eigentlich gerade in uns und um uns ab? Ich meine uns, die wir jetzt leben, aber anders als noch vor Kurzem. Das normale alltäglich soziale Leben, es stirbt nicht ab, aber so mag es uns bisweilen schon vorkommen: Schulen und Kindergärten weitgehend geschlossen, nun schon seit die zweite Woche – weitere folgen-, dazu viele Büros, Dienststellen, Abteilungen. Die Straßen: nicht leer, aber ruhig. Auch die Innenstadt. Es fehlen selbst die Gottesdienste. Die Glocken rufen nicht mehr zum Gottesdienst in die Kirchen, lediglich zum persönlichen oder gemeinsamen, verbindenden Gebet in den Häusern.

Was kann und darf in uns absterben, von uns abfallen, jetzt da so vieles anders geworden ist: Das mag man prüfen und bedenken: So beginnt nämlich die dritte Strophe: „Im Gestein verloren Gottes Samenkorn,/ unser Herz gefangen in Gestrüpp und Dorn – …“

Worin sind wir gefangen, wovon also könnten wir befreit werden? Sind es vielleicht die unsichtbaren Scheuklappen, mit denen wir zeit- und streckenweise durchs Leben laufen, rennen, hetzen? Ist es vielleicht das Kreisen um sich selbst und die kleine eigene Welt, das eigene Wohl und Vorankommen? Die eigene Geschäftigkeit und Routine, die uns immer nach vorne, aber manchmal kaum links und rechts neben uns blicken lässt, auf andere Menschen, die auch da sind, die uns brauchen, die uns auch helfen können und weiterblicken lassen, den eigenen Horizont erweitern. Oder übersehen wir noch mehr? In der sonst vielfach gängigen eigenen Geschäftigkeit und Routine geraten am Ende nicht nur andere Menschen aus dem Blickfeld, sondern wir übersehen und verlieren womöglich auch uns selbst. Laufen weg vor uns und von uns selbst.

Das geht jetzt nicht mehr so leicht. Wie gesagt: „Man lernt sich selbst jetzt ganz neu kennen.“ Ist auf sich selbst geworfen, sich sogar ausgeliefert. Merkt, ob man mit sich selbst klarkommt oder diese Begegnung unangenehm ist. Ob man gut zu sich selbst ist und sein kann. Das ist ja überhaupt erst die Voraussetzung, um offen für andere Menschen zu sein, zu werden, zu bleiben. Da kann jetzt was entstehen, langsam, kaum merklich, eben: keimen. Man lernt sich jetzt auch gegenseitig ganz neu kennen. Die Menschen, mit denen wir zusammenleben, und auch die Menschen, an die wir denken und mit denen wir regelmäßig Kontakt pflegen oder den Kontakt jetzt bewusst suchen und pflegen. Was wir an ihnen haben, merken wir besonders deutlich jetzt, wo sie uns fehlen – oder jetzt Zeit und Offenheit gewonnen haben, wieder mehr an sie zu denken.

Neues gewinnt Raum und kann eintreten.

„Liebe lebt auf, die längst erstorben schien“, so geht es weiter in der ersten Strophe. Freunde oder Geschwister haben sich aus den Augen, aber nicht ganz aus den Gedanken verloren, aber es ist doch schon so lange her, dass die Freundschaft, das gute Miteinander mit Leben erfüllt war. Menschen wollten ihr Leben miteinander teilen und merken, dass ihr Leben länger ist als sie zusammen bleiben wollen oder können. Die Kraft, die Ausdauer, die Geduld, die Gemeinsamkeit reichen nicht aus: „Liebe, die längst erstorben schien“… Und dann finden Menschen neu zueinander, denken liebevoll aneinander und lassen es sichtbar und spürbar werden: Sie sehen sich wieder, sprechen wieder miteinander, verstehen einander, verzeihen einander: „Liebe lebt auf“.

Manchmal – nicht immer, man kann es nicht erzwingen, es bleibt Geschenk, es bleibt ein Wunder! -manchmal also finden Menschen nach langer Zeit wieder zusammen. Auch zwischen den Generationen kann das so sein: Eltern waren für ihre Kinder da, als diese klein waren und sie brauchten. Gerade jetzt! Aber auch früher. Auch Jugendliche und (junge) Erwachsene erfahren oft erhebliche Unterstützung durch ihre Eltern. Gerade jetzt! Aber auch früher. Irgendwann leben die Kinder ganz ihr eigenes Leben. Die Entfernung zu den Eltern ist groß geworden, nicht nur räumlich. Vielleicht gibt es alte, tiefsitzende Verletzungen oder Konflikte. Man hatte womöglich nicht den Mut, sie anzusprechen und zu bearbeiten, oder hielt das für aussichtslos. Dann werden die Eltern alt. Da ist die Zeit gekommen, so ist es oft, in der nun die Kinder für ihre Eltern da sind. Manchmal wird in der zu Ende gehenden Lebenszeit der Eltern noch ausgesprochen, worüber man jahrelang nicht reden konnte oder wollte. Manchmal ist das gar nicht mehr nötig, weil sich das Belastende schlicht überlebt hat oder klein und unbedeutend geworden ist. Eltern und Kinder finden neu zueinander. Der bevorstehende Tod schafft erfülltes Leben für beide, Eltern und Kinder: „Liebe lebt auf, die längst erstorben schien“.

An wen denken wir jetzt neu, sorgen uns neu um sie oder ihn? Wen können wir jetzt anders verstehen, besser und gerechter? Und lernen wir, mit anderen und uns selbst einen anderen Umgang, dort wo nötig? Fragen, die sich in diesen Tagen und Wochen dringender stellen und nach einer Antwort verlangen können.

Ich möchte auch und besonders an diejenigen denken, für die diese Passionszeit eine Zeit allerhöchster Anspannung und Aktivität ist: die Menschen, die diese Zeit auch erleiden, aber gleichzeitig kaum noch durch den Tag kommen und Grenzen ihrer Kraft und Belastbarkeit erfahren: die allermeisten von ihnen kennen wir ja gar nicht persönlich, es sind so viele: die Menschen, die in den Krankenhäusern und Altenpflegeheimen Dienst tun für die ihnen anvertrauten Menschen, die bis zum Limit und völligen Erschöpfung arbeiten und doch wissen und sich, so gut wie irgend möglich, darauf vorbereiten, dass es noch mehr und noch härter werden wird: in Italien ganz besonders, aber auch sonst überall auf der Welt. Es sind Menschen, die mit dem Tod leben! Dann denke ich an die Menschen, die unsere tägliche Versorgung aufrecht halten, unter erheblichem Einsatz, unter enormen Mühen und Anstrengungen, z.B. in den Supermärkten. Weiter denke ich an die Menschen, die organisatorisch tätig sind: in den Behörden und Bildungseinrichtungen unseres Landes. Die Menschen, die forschen und beraten: in den einschlägigen Instituten und an den Universitäten. Die Menschen, die Entscheidungen treffen und vertreten, erklären und verantworten müssen: die Menschen in der Politik: auf Kommunal-, Kreis- und Landesebene, im Miteinander der Bundesländer, im Bund, im Miteinander der europäischen Staaten. Die Menschen in den seriösen Medien, die uns zuverlässig, umfassend und ausgewogen informieren.

Alle Strophen des Liedes schließen mit dem Kehrvers: „Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.“ Ein schönes Bild! Farbe ermöglicht Vorstellung. Grün gilt als Farbe der Hoffnung. Hier ist es die Hoffnung, dass aus Lähmung und Erstarrung, aus Furcht und Schrecken, aus Krankheit und Elend, aus Tod und Trauer schließlich Leben erwachsen möge. Sicherlich langsam und zart, aber offen für eine gute und erfüllte Zukunft. Vor dem Kehrvers in der letzten Strophe des Passionsliedes, das vom Tod und von der Liebe singt, findet sich der schlichte und zugleich wichtigste Vers: „hin ging die Nacht, der dritte Tag erschien“. Eine tröstliche Aussicht inmitten jeder Passionszeit!

Gottesdienst für die Stadt Haiger am 29. März 2020 um 10.00 Uhr

Der Gottesdienst wird am Sonntag Judica, den 29.03.2020, ab kurz vor 10 Uhr bei YouTube aufrufbar sein. Hier der Link, der direkt zu unserm Kanal bei YouTube führt:

https://m.youtube.com/channel/UCQhVdcgDadwgUd8e99P6RLA

Mitwirkende:

Frank Kowalik und Jannik Lehr: Technik

Tabea Jochem: Klavier

Jonas Hain: Gesang

Sebastian Pulfrich: Lesung, Fürbittengebet und Vaterunser

Pastor Matthias Ackermann: Liturgie / Moderation

Pfarrer Ralf Arnd Blecker: Predigt