Gedanken zum Karsamstag 2020

Gedanken zum Karsamstag 2020 – von Pfarrer Andreas Strauch

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diese Worte aus dem 22. Psalm hat Jesus, so erzählen es die Evangelisten Markus und Matthäus, am Kreuz gerufen.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diese Frage steht auch über dem Karsamstag, dem Tag der Grabesruhe Jesu. In diesem Jahr mögen manche sie besonders drängend empfinden – nicht erst heute am Karsamstag. Vielleicht konzentriert sich das Gefühl der Gottverlassenheit heute aber besonders.

Der Karsamstag ist ein stiller, ein ruhevoller Tag. Ein Tag, an dem man sich der Leere, der Verlassenheit, der Einsamkeit aussetzen kann und darf, ja vielleicht sogar sollte. In diesem Jahr allerdings haben viele darin schon Übung.

Diese unfreiwillige Übung über nun schon mehrere Wochen, dieser Tage im bewussten Mitgehen des Weges vom Gründonnerstag bis zu Ostern, heute am Karsamstag womöglich besonders konzentriert und intensiv empfunden, kann uns öffnen für die Erfahrung, dass wir all dies nun eben doch nicht sind: Wir sind nicht leer, nicht einsam, nicht verlassen. Letztlich nicht, auch wenn wir’s derzeit, im Moment, anders empfinden.

Neu dürfen wir die Nähe und die Fülle Gottes empfangen. Dazu ist es gut und heilsam, sich bewusst dafür bereit zu halten.

Ganz verlassen war Jesus am Kreuz nicht: „Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.“ (Lukas 23,49).

Der Evangelist Lukas erzählt immer wieder von Frauen, von den Jüngerinnen, den Freundinnen Jesu – und von seiner Mutter Maria.

Frauen waren auch bei Jesu Grablegung zugegen, so erzählt es auch der Evangelist Lukas (23, 55.56): „Es folgten aber die Frauen nach, die mit ihm gekommen waren aus Galiläa, und sahen das Grab und wie sein Leib hineingelegt wurde. Sie kehrten aber um und bereiteten wohlriechende Öle und Salben. Und den Sabbat über ruhten sie nach dem Gesetz.“

Sie wollten Jesus ihr letztes Liebeswerk erweisen, seinen Leichnam mit wohlriechenden Ölen und Salben versehen.

Man mag auch an die Frau denken, von der Lukas weiter vorne in seinem Evangelium erzählt (gemeinhin die große Sünderin genannt – Kapitel 7), die Jesus die Füße küsste und mit Salböl salbte: Zeichen der hingebungsvollen, verschwenderischen Liebe. Umgekehrt hatte Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen und ihnen das Gebot der Liebe mitgegeben, wie der Evangelist Johannes erzählt (Kapitel 13).

Diese Öle und Salben also hatten die Frauen vorbereitet, um dann auch zur Ruhe zu kommen, um sich unterbrechen zu lassen, selbst im Dienst der Liebe.

Sie heiligten so den Sabbat, den Ruhetag Gottes, nicht nach seiner Schöpfung, sondern als Abschluss seiner Schöpfung – dieser geschenkt.

Segen liegt über diesem Ruhetag: „Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.“ (1. Mose 2, 3)

Der Tag der Grabesruhe Jesu war der Sabbattag, der gesegnete Ruhetag. Als ob Gott neu Atem holte. Als ob sein Heiliger Geist die Ruhe durchweht und belebt.

„Siehe, ich mache alles neu!“ So heißt es in der Offenbarung des Johannes (21, 5) nach der Verheißung Gottes, die der Seher gehört hatte: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Offb. 21, 4)

Der Ruhetag kann verstanden und begangen werden als Tag der Vorbereitung der Neuschöpfung Gottes: Leben wird neu erblühen, die Freude des Neubeginns keimt auf.

Wir spüren den Neuanfang Gottes oft gar nicht so recht. Und die Frauen? „Aber am ersten Tag der Woche sehr früh kamen sie zum Grab und trugen bei sich die wohlriechenden Öle, die sie bereitet hatten.“ (Lk. 24, 1)

Die Frauen machten weiter, wo sie aufgehört hatten, sie taten den nächsten Schritt – hin zum Grab – und waren doch längst Teil des umwälzenden Neuanfangs Gottes, des Ostergeschehens.

Die orthodoxen Kirchen nennen den Karsamstag den „Großen Sabbat“, den „heiligen Sabbat“. In ihm reift Ostern.

Uns kann der Karsamstag bereit machen für Ostern, für die Auferstehung, für neues Leben.

Wir wissen nicht, wann wir in unser gewohntes Leben zurückkehren können und dürfen. Ich frage mich allerdings auch, inwieweit es überhaupt das gewohnte Leben sein kann.

Neues Leben ist uns verheißen!

Ob das auch eine Abkehr von Schritten und Wegen sein kann, die der Menschheit, ja Gottes Schöpfung als Ganzer erkennbar nicht gutgetan haben, nicht guttun? Und was bedeuten und wohin führen andere, neue Wege für uns vor Ort, die wir in weltweite Zusammenhänge unlösbar eingebunden sind und doch auch unser Leben in unserem überschaubaren Nahbereich verbringen und gestalten?

Stille ist nicht Stillstand. Die Ruhe dient der Rekreation, wörtlich: der Neuschöpfung. Diese aber dürfen wir an uns geschehen und uns in sie mithineinnehmen lassen, also: uns von Gott auf den Weg des neuen Lebens setzen, uns von seinem Heiligen Geist leiten lassen.

Gott hat seinen Sohn Jesus Christus aus dem Tod auferweckt, das feiern Christen zu Ostern und im Gefolge von Ostern jeden Sonntag neu.

Sabbat und Sonntag. Ruhe, Rekreation, Auferstehungsfreude, neues Leben kommen zusammen. In der Abfolge des Karsamstags und des Ostermorgens zeigen sich unsere von Gott geschenkten Kräfte aufs äußerste verdichtet, die unser Leben halten, tragen und voranbringen können.

Auch wenn Angst und Sorge, Einsamkeit und Verlassenheit, Elend und Armut, Gewalt und Krieg, Flucht und Grenzen, Krankheit und Schmerzen, Niederlage und Verlust, Not und Tod, Tränen und Trauer vor Augen stehen – Gottes Weg führt uns weiter als unser Blick reicht. Dafür möge der Karsamstag uns offenhalten: Ostern steht wieder bevor.

Längst ist es Ostern geworden, und doch müssen wir immer wieder warten, manchmal lange, dieses Jahr bestimmt lange, auch über Ostern hinaus, aber nicht endlos lange! Halten wir den Karsamstag, die spannungsreiche Ruhe aus, halten wir uns bereit für das neue Leben!

Wie wird dieses Ostern uns verändern – hin zu Gott, zu seiner Schöpfung, zu unseren Nächsten, nah und fern? Wie werden wir uns selbst vorfinden – und neu finden?