Eine zweite Andacht in der besonderen Passionszeit 2020

Eine zweite Andacht in der besonderen Passionszeit 2020 – von Pfarrer Andreas Strauch

Eine weitere Woche liegt bald hinter uns, in der alles so anders ist, in der man sich an vieles gewöhnen muss, an das man sich schwer gewöhnen möchte oder kann.

Der Wochenspruch für die fünfte Woche der Passionszeit (ab dem Sonntag Judika), die jetzt ausklingt, lautet: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern das er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung als Lösegeld für viele.“ (Mt. 20, 28)

Der Wochenspruch verdeutlicht einmal mehr den Zuspruch des Evangeliums. Der Zuspruch läuft jedem Anspruch voraus.

Bevor Christenmenschen überlegen, abwägen und entscheiden, was sie als solche tun können, ist für uns etwas getan worden: Gutes, Lösendes. Wir dürfen Erlösung erfahren von Spannungen und Verkrampfungen, von Enge und Angst, von Druck und Nötigung, von Gewissensqualen und Schuld. Jesu Leben und Sterben lässt sich als Dienst verstehen, der Menschen von dem befreit, was sie niederdrückt und gefangen nimmt. Jesu Leben und Sterben ist Dienst, um Menschen zum Leben zu verhelfen.

Gehören christlicher Glaube und Dienen zusammen, zeigt sich gelebter Glaube auch an Dienstbereitschaft und praktischer Dienstausübung?

Vorsicht: Dienen kann problematisch sein. Wenn es nämlich den anderen nicht wirklich guttut. Mit Dienen kann man auch unguten Einfluss auf andere ausüben, sich ihrer bemächtigen, sie abhängig oder gefügig machen. Dienen kann verkapptes Herrschen sein oder werden.

Dennoch möchte ich das Gute und Lebensförderliche des Dienens nicht so schnell aus dem Blick verlieren. Ich meine schon, dass es dem Miteinander von Menschen, sei es im Familien- oder Freundeskreis, im Dorf, im Stadtteil oder auch im gesamtgesellschaftlichen Rahmen, guttut, wenn der Dienst-Gedanke eine maßgebliche Rolle spielt.

In unserer Alltagssprache ist er unauffällig präsent in Wörtern wie Dienstplan, Dienstkleidung, Dienstbesprechung, auch: Dienstauftrag, ja sogar: Dienstaufsicht. Immer schwingt noch mit, dass Arbeit bzw. Berufsausübung auch dienenden Charakter, dienende Funktion hat. Menschliche Arbeit kommt somit anderen zu gute. Inzwischen hat sich die Bezeichnung Dienstleistungsberuf durchgesetzt; der Dienstleistungssektor spielt in unserem Wirtschaftsleben eine immer bedeutendere Rolle. Vieles hat sich da stetig zum Guten hin verändert: Auf guten Service (= Dienst) legen Kunden wie Bürger Wert, und Firmen wie Geschäfte können damit punkten, genauso wie Ämter und Behörden. Entsprechend empfindlich reagieren wir, wenn wir den Service vernachlässigt sehen.

Wir alle leben vom Dienst anderer. Niemand kann ganz darauf verzichten. Das merken wir derzeit ganz besonders.

Es kommt sogar vor, dass wir davon leben, dass andere ihr Leben für uns einsetzen. Oft sind das Katastrophenhelfer, Feuerwehr, Rettungsdienste, Polizei. Jedenfalls gehen sie in bestimmten Gefahrensituationen ein nicht unerhebliches Risiko für sich selbst ein, um anderen zu helfen, sie zu retten oder zu schützen, eben: ihnen zu dienen.

Derzeit haben wir eine ganz besondere, für uns neuartige und außergewöhnliche Gefahrensituation, die uns bedroht, einengt, ängstigt, verstört, aber auch zur Besinnung kommen lässt, Kreativität freisetzt, neue Wege aufzeigt und unserem Glauben, unserer Hoffnung wie unserer Liebe Gelegenheiten gibt, sich zu bewähren und nicht unterkriegen zu lassen.

Es liegen jetzt zwei Wochen weitgehenden Kontaktverbotes hinter uns und drei Wochen, in denen Schulen und Kindergärten ihren regulären Betrieb nicht fortführen konnte.

Viele Menschen geben sich in anstrengendem Dienst und bewundernswertem Einsatz für andere hin, um für sie da zu sein, ihnen zu helfen, für ihr Leben zu kämpfen, zu heilen, zu pflegen und auch um vorzusorgen, damit dies auch weiterhin möglich bleibt. Ich nenne hier noch einmal viele dieser Menschen, die uns zumeist ja gar nicht persönlich bekannt sind, wie ich es schon in meiner Andacht in der letzten Woche getan habe, und erweitere die Aufzählung dabei noch ein wenig, ohne auch jetzt Vollständigkeit erreichen zu können:

Denken wir also wieder und erneut dankbar an die Menschen, die in den Krankenhäusern und Altenpflegeheimen Dienst tun für die ihnen anvertrauten Menschen, die bis zum Limit und bis zur völligen Erschöpfung arbeiten und doch wissen und sich, so gut wie irgend möglich, darauf vorbereiten, dass es noch mehr und noch härter werden kann und vielfach auch werden wird: z.B. in New York ganz besonders, aber auch sonst vielerorts, ja im Grunde überall auf der Welt, nach wie vor z.B. auch in Italien, Spanien und Frankreich. Es sind Menschen, die mit dem Tod leben! Denken wir ebenso an die Menschen, die unsere tägliche Versorgung aufrecht halten, unter erheblichem Einsatz, unter enormen Mühen und Anstrengungen, z.B. in den Supermärkten an den Kassen oder Ladenregalen, z.B. in den LKWs auf den Autobahnen und Landstraßen. Denken wir ebenso an die Menschen, die organisatorisch tätig sind: in den Behörden und Bildungseinrichtungen unseres Landes, dabei auch an die Menschen, die in Schulen und Kindergärten auch für die Notbetreuung sich zur Verfügung stellen, auch an Wochenenden und den bevorstehenden Feiertagen, um Kinder zu betreuen, deren Eltern sich eben in unverzichtbarer Weise dafür einsetzen, dass unsere Gesellschaft lebens- und handlungsfähig bleibt. Denken wir auch an die Menschen, die forschen und beraten: in den einschlägigen Instituten und an den Universitäten und Kliniken. An die Menschen, die Entscheidungen treffen und vertreten, erklären und verantworten müssen: die Menschen in der Politik: auf Kommunal-, Kreis- und Landesebene, im Miteinander der Bundesländer, im Bund, im Miteinander der europäischen Staaten. An die Menschen in den seriösen Medien, die uns zuverlässig und umfassend, ausgewogen und kritisch informieren.

Sie alle und viele mehr geben sich mit aller Kraft für andere hin. Wir leben von ihrem Dienst und ihren Diensten, von ihrem Engagement, ihrem außergewöhnlichen, nicht selbstverständlichen Einsatz, den wir in anderen Zeiten leicht übersehen oder nicht angemessen zu würdigen wissen.

Etliche Menschen haben jetzt mehr Zeit frei als vorher und deswegen spontan umgesattelt, um zu helfen, wo sie jetzt gebracht werden: eine Frisörin räumt jetzt Regale im Supermarkt ein, Studierende fahren warmes Essen an alte Menschen aus.

Es gibt aber auch viele Menschen, Unternehmer, Selbständige, Betreiber von Restaurants oder Cafés etc., die von existentiellen Sorgen erdrückt werden, die – trotz staatlicher Hilfen – nicht wissen, wie es mittel- oder langfristig weitergehen kann, weil Einnahmen wegbrechen und Kosten bleiben. Ihr Dienst ist eingestellt, ihre Verantwortung für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie für ihre Familien und für sich selbst aber bleibt.

Erinnern möchte ich auch an die „Ärzte ohne Grenzen“, die so gut oder so recht und schlecht, wie es eben unter den schlimmen Bedingungen geht, den Menschen in den Flüchtlingslagern auf den Inseln in der östlichen Ägäis helfen, die fast vergessen scheinen und weiterer Hilfe dringend bedürfen, um aus ihrer Lage befreit zu werden.

Und wer hilft derzeit den Menschen in Indien, die auf der Flucht aus den Städten in ihre Heimatdörfer sind und vielfach schon gar nicht mehr aus der Stadt herauskommen? Wer kann ihnen helfen?

Vergessen wir sie alle jedenfalls nicht in unseren Gebeten, gerade diejenigen nicht, die der Gefahr so hilflos ausgeliefert sind! Denken wir auch an die vielen Kranken und Schwerkranken in unseren Gebeten, an diejenigen, die wir persönlich kennen und denen wir in Sorge und in Liebe verbunden sind, und auch an die vielen, die meisten anderen, die wir nicht persönlich kennen.

Unsere Gebete sind ein Dienst, den wir alle leisten können und dem wir auch etwas zutrauen dürfen!

Wie gesagt: Es ist jetzt die Zeit, die unserem Glauben, unserer Hoffnung wie unserer Liebe Gelegenheiten gibt, sich zu bewähren und nicht unterkriegen zu lassen. Gebete sind genuine Praxis des christlichen Glaubens. Stiller Dienst für andere! Unsere Gebete lassen uns sicherlich auch auf weitere Ideen kommen, wie und wo und wem wir helfen, dienen können.

Mögen wieder Zeiten kommen, die uns nicht so belastend vorkommen (oft liegt dies allerdings nur daran, dass wir die Belastungen der Zeit und der Welt nicht so stark wahrnehmen oder an uns heranlassen, weil sie weiter von uns weg sind oder scheinen und weil wir uns besser von ihnen fernhalten oder abschotten können).

Auch wenn es nicht immer so extrem kommen mag und wieder besser für uns und für viele werden wird, wenn hoffentlich wieder so etwas wie normaler Alltag kommen wird – die Einsicht bleibt doch: Indem andere für uns arbeiten, uns dienen, setzten sie etwas ein von sich. Zeit, Kraft, Geld. Eltern für ihre Kinder. Kinder für ihre alten Eltern. Und auch die Berufsarbeit ist oft faktisch Einsatz für andere, Dienst eben. Ich finde es wichtig und hilfreich, dies sich bewusst zu machen und es auch zu bejahen: Dienst aus innerer Stärke und aus freiem Willen heraus zu tun. Und aus Dankbarkeit für alle Dienste anderer, von denen wir leben.

Vor allen Erwartungen an unsere Dienstleistungen steht der große Dienst, der für uns getan wurde. Jesu Dienst an und für uns. Der Einsatz seines Lebens – aus reiner Liebe. Damit wir doch letztlich unbeschwert, unbelastet, erlöst leben können – der beste Grund und Antrieb, sich für andere einzusetzen, wie, wo und wann wir gebraucht werden und wir’s können.