Von Pfarrer Andreas Strauch
Johannes 16, 23b-33:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben.
24 Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei.
25 Das habe ich euch in Bildern gesagt. Es kommt die Stunde, da ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen von meinem Vater.
26 An jenem Tage werdet ihr bitten in meinem Namen. Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde;
27 denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin.
28 Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.
29 Sprechen zu ihm seine Jünger: Siehe, nun redest du frei heraus und nicht in einem Bild.
30 Nun wissen wir, dass du alle Dinge weißt und bedarfst dessen nicht, dass dich jemand fragt. Darum glauben wir, dass du von Gott ausgegangen bist.
31 Jesus antwortete ihnen: Jetzt glaubt ihr?
32 Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.
33 Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.
Liebe Gemeinde, der Mensch lebt davon, dass er sich mitteilt. Auch wenn man manches mit sich selbst ausmacht und ausmachen muss – es ist doch wichtig, sich auch mit anderen zu besprechen, von den eigenen Sorgen, dem eigenen Glück, den Ängsten und Hoffnungen anderen zu erzählen, andere daran teilhaben zu lassen.
Gerade wenn man manches mit sich selbst ausmacht, führt das Bedürfnis sich mitzuteilen, sich zu äußern, gut zum Gebet. Da kann mit dem Innersten, das man preisgibt, nichts Böses passieren. Niemand kann es weitererzählen an Menschen, die’s nix angeht, die’s nicht hören sollen. Man ist auch nicht Unverständnis, Desinteresse, Gleichgültigkeit oder – im Gegenteil – unangemessener Neugier ausgesetzt.
Ich meine, liebe Gemeinde, das Gebet tut gut, dient der eigenen Entlastung, Sortierung, Klärung, auch dann, wenn man gut und gerne mit anderen Menschen sprechen kann.
Es gibt ja Menschen, denen man gut und gerne vertrauen kann und mit denen man jedenfalls so manches (es muss ja nicht alles sein!) besprechen kann. Wer ist das bei Ihnen, bei euch? Gleichaltrige Freunde, Freundinnen? Freundinnen und Freunde, die deutlich älter oder deutlich jünger sind? Die Eltern? Die Kinder? Tanten, Onkel, Neffen, Nichten? Zu manchen von ihnen besteht ja ein gutes, freundschaftliches, vertrauensvolles, inniges Verhältnis! Auch mit vielen Ärzten, Lehrerinnen, Pfarrern, auch mit Rechtsanwältinnen kann man gut reden. Sie alle haben Schweigepflicht und bemühen sich – aus ihrer Sicht – um Verständnis, Teilnahme, Rat und Hilfe, wenn nötig, wenn möglich, wenn gewünscht!
So wie sich Menschen Vertrauenspersonen offen anvertrauen, so können und dürfen wir gewiss auch uns Gott anvertrauen, ohne Scheu und Scham, ohne die Sorge, abgelehnt oder nicht ernst genommen zu werden.
Nur eine Schwierigkeit lässt sich nicht übersehen: Gott ist nicht zu sehen. Und wir können zwar zu Gott reden, mit Gott offen sprechen, aber hört Gott uns? Gibt es eine Antwort? Wie nehmen wir die wahr?
Wenn wir allerdings etwas aufschreiben, das jemand anderes lesen soll – ich rede jetzt nicht von Kurznachrichten, eher von Briefen oder E-Mails – gibt’s auch keine direkte, prompte Antwort. Aber schon das Schreiben tut gut. Und wenn die Antwort kommt, können wir sie lesen – oder man trifft sich vorher und spricht dann doch direkt miteinander.
Die Kommunikation mit Gott im Gebet ist schon eine andere. Die Offenheit, die Vertrautheit kann unbegrenzt und uneingeschränkt sein – wie bei einem vertrauten Menschen – oder sogar noch offener – da muss nichts verborgen bleiben. Aber was damit geschieht, was wir Gott anvertraut haben, was Gott damit macht, das liegt im Verborgenen. – Das macht das Beten nicht überflüssig und nicht sinnlos! —
Liebe Gemeinde, die christlichen Feste im Kirchenjahr lassen sich unter dem Gesichtspunkt verstehen, dass Gott sich den Menschen begreifbar und sichtbar macht und dass Gott bei den Menschen ist und bleibt und weiterhin für sie da ist.
So heißt es in Johannes 16, 28: „Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“ Darin findet sich, was wir zu Weihnachten, Karfreitag, Ostern und Himmelfahrt feiern.
Dass Jesus die Menschen sozusagen besucht hat, lässt diese nicht unverändert. So wie ein lieber Besuch immer etwas Gutes mit einem macht und auch etwas Gutes zurücklässt, wenn er sich wieder verabschiedet und geht.
So lässt der Evangelist Johannes an anderer Stelle, im gleichen Kapitel 16, aber sogar schon vorher, vorweg, Jesus sagen (Johannes 16, 6b.7): „… ist euer Herz voll Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden.“
Jesus hat die Menschen besucht. Gott hat menschlich mit den Menschen geredet. Von Mensch zu Mensch. Hat mit ihnen gegessen und getrunken. Vor 2000 Jahren, als Jesus auf der Erde mit den Menschen seiner Zeit sein Leben teilte. Die Menschen begriffen: Dieser Mensch, so menschlich er ist, ist ein besonderer Mensch. Sicher: Jeder Mensch ist besonders. Aber das Besondere dieses Menschen war: Durch die Art und Weise, wie er lebte, was er tat und sagte, und wie er es tat und sagte, haben die Menschen gespürt: Da ist Gott. Der ist Gott. Gott auf der Erde. Gott bei uns. Gottes Sohn. Wer Kontakt zu Jesus hatte, hatte Kontakt zu Gott. Wer mit Jesus sprach, sprach mit Gott. Zu wem Jesus sprach, zu dem sprach Gott. Mehr und mehr merkte man, dass es in diese Richtung ging. Im Menschen Jesus wurde mehr und mehr Gott selbst erkennbar und erkannt.
Umso stärker stellte sich die Frage, ob der Kontakt mit Gott denn bleibt, wenn Jesus nicht mehr da ist. Kein Mensch lebt ewig auf Erden. Auch Jesus nicht.
Aber ein Mensch, wenn er nicht mehr da ist, hinterlässt etwas. Vor allem: Er hat das Leben derjenigen, die mit ihm gelebt haben, geprägt. Und kann weiterhin wirken.
Jesus hat den Menschen Gott nahegebracht. Und das wirkte und wirkt. Jesus hat versprochen, ‚den Tröster‘ zu den Menschen zu ‚senden‘, den Heiligen Geist. Die Verbindung zu Gott und mit Gott bleibt, über seinen Weggang hinaus. Weggang ist nicht nur sein Tod. Tod, Auferstehung, Himmelfahrt – das ist ein Geschehen beim Evangelisten Johannes: der Weggang Jesu von den Menschen, der ihnen den unmittelbaren Zugang zu Gott eröffnet. Über seinen Weggang hinaus: d.h. auch für die Menschen später, nicht nur für die Menschen, die ihn damals in den wenigen Jahren im kleinen Landstrich Palästina kennenlernen durften. Auch für uns ist der Zugang zu Gott direkt möglich. Deswegen brauchen wir nicht zu Jesus zu beten. Wir können das, aber Jesus schickt unsere Gebete zu Gott.
Es ist angemessen, in Jesu Namen zu beten. Das hören wir in unserem Abschnitt aus dem Johannes-Evangelium (s.o.) mehrfach. Im Gedenken an den Menschen Jesus, in der Vergegenwärtigung des Menschen Jesus, der uns Gott nahegebracht hat. Aber: Jesus ist nicht als Vermittler notwendig. Der Zugang zu Gott ist frei.
Jesus sagt den merkwürdigen Satz (Johannes 16, 26b): „Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde“. Das Beten in Jesu Namen zu Gott, dem Vater, reicht für die direkte Kommunikation mit Gott: „denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin.“ (Johannes 16, 27) Gottes Liebe trifft uns direkt!
Jesus tröstet seine Jünger und Jüngerinnen, diejenigen also, die sich von Jesus Gott haben nahebringen lassen. Er tröstet sie und stellt ihnen in Aussicht: Gottes Liebe wirkt und gilt euch unmittelbar. Denkt ihr an mich, haltet ihr mich im Gedächtnis lebendig, betet ihr in meinem Namen, habt ihr ohne Weiteres Zugang zu Gott. – Jesus und wer ihm nachfolgt, schlagen die gleiche Richtung ein: „ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“ (Johannes 16, 28b) Unser Gebet lenkt unsere Gedanken zu Gott, unserem gemeinsamen Vater.
Die Frage nach der Kommunikation mit Gott findet sich natürlich auch in den anderen Evangelien, und Matthäus und Lukas überliefern als eine Antwort darauf das wohl bekannteste Gebet: das Vaterunser.
Bei Matthäus steht es an hervorgehobener Stelle: im Zentrum der Bergpredigt. Jesus gibt seinen Zuhörerinnen und Zuhörern das kurze, konzentrierte Gebet – und wendet sich gegen ein damals wie heute nicht selten praktiziertes Verständnis vom Gebet, dass man in die Formel ‚viel hilft viel‘ fassen könnte: wenn man also in immer neuen Anläufen sozusagen auf Gott einredet, Gott bestürmt. Gegen dieses angestrengte Bemühen sagt Jesus den schönen und entlastenden Satz: „euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“ (Matthäus 6, 8b)
Bei Lukas steht das Vaterunser – noch knapper überliefert – außerhalb der Feldrede, seinem kürzeren Pendant zur Bergpredigt bei Matthäus – nach der Geschichte von Maria und Marta und vor der Geschichte vom bittenden Freund. In dieser werden die Worte Jesu überliefert: „wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.“ (Lukas 11, 10)
In unserem Abschnitt aus dem Johannes-Evangeliums (s.o.) klingt das ganz ähnlich (Johannes 16, 23b.24b.): „Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben. … Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei.“
Aber wird das nicht überboten und bald schon überflüssig durch den zitierten Satz in der Bergpredigt direkt vor dem Vaterunser: „euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“ (Matthäus 6, 8b)? Direkt darauf folgt das Vaterunser.
Jesus zeigt, wie die Kommunikation mit Gott geht. Er lehrt es. Es zu lernen ist nicht schwer. Übung braucht man höchstens, um es nicht zu verlernen, vor allem aber weil es eine gute, eine wohltuende Übung ist, das Vaterunser zu beten. Es dient der Sammlung der Gedanken, es konzentriert, es gibt Worte, die uns manchmal fehlen, es ersetzt Worte, die wir nicht finden.
Und es hilft uns aus der Vereinzelung, wenn wir das Vater“unser“ (Mehrzahl!) beten. Jesus richtet unsere Gedanken auf seinen Vater, den auch wir so nennen dürfen. Mit denselben Worten können wir ihn ansprechen – so unterschiedlich unsere Anliegen, Wünsche und Bitten im Einzelnen sind, so unterschiedlich auch die Situationen sind: ein Vaterunser passt immer, und es wird zu jeder Zeit und überall gebetet. Es verbindet uns mit anderen Christenmenschen in der Nähe und in der Ferne. Sie bleiben uns nicht fern. Vaterunser-Beter- und Vaterunser-Beterinnen, ob im Gottesdienst, ob vor einer Autofahrt oder vor einer Klassenarbeit, vor einer Operation oder nach einer Sitzung, ob am Krankenbett, ob am offenen Grab beim Abschied von einem lieben Menschen – sie sind nicht alleine. Jesus leiht, Jesus gibt uns Worte, mit denen wir in Kontakt mit Gott kommen – zunächst alleine oder gleich gemeinsam, einzeln und als Teil der Gemeinde, ja sogar als Teil der weltweiten Christenheit.
„Euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“ Gewiss! Er weiß es sogar besser, sieht weiter, sieht mehr als wir. Der Zweck und das Ziel des Betens ist deshalb auch bestimmt nicht, dass einfach alles so kommen soll, wie wir’s uns denken oder sogar in eigenen Gebeten aussprechen.
Selbst die Bitten des Vaterunsers sind ja längst nicht alle und für jeden Menschen erfüllt. – Aber warum beten wir denn überhaupt?
„Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Johannes 16, 33) Angst ist mehr als Furcht. Angst ist mehr als Furcht, weil sie weniger konkret, weniger greifbar ist. Angst ist unbestimmt. Sie kommt, bleibt, verschwindet, nicht immer mit äußerem Anlass, nicht immer rational fassbar oder begründbar. Sie bedrängt uns. Sie ist nicht leicht in Worte zu fassen und auf den Punkt zu bringen. – „Angst“ ist aber nicht die genaue Übersetzung des griechischen Wortes im Text. Wörtlich heißt es: Bedrückung, Bedrängnis, Trübsal. Was uns einengt, zu schaffen macht, Druck bereitet und eben auch: was uns traurig macht. Aber das Unfassbare, das Ungreifbare, was uns zusetzt, das ist mit Luthers Übersetzung „Angst“ schon sehr treffend ausgedrückt!
Druck, Traurigkeit, Angst: das gibt es in jedem Menschenleben. Das gibt es gerade in diesen Wochen und Monaten zuhauf! Manchmal kann man gut damit umgehen: Es dominiert nicht, und schöne Befindlichkeiten wie Zuversicht, Leichtigkeit, Glück, Fröhlichkeit, guter Mut sind mindestens so stark oder stärker. Manchmal aber sind Druck, Traurigkeit, Angst – und was uns sonst bedrückt und bedrängt und belastet, bleischwer und aus den Gedanken nicht mehr wegzukriegen. Kaum ein Menschenleben, in dem das nicht vorkommt. Und wer ist in diesen Zeiten ganz davon verschont?
„Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst (Bedrängnis, Trübsal, Druck, Traurigkeit); aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Der Zweck, das Ziel des Betens ist demnach: Frieden in Jesus Christus.
Im Gedenken an ihn, mit Jesus Christus in Gedanken, in seinem Namen, mit seinem Gebet sich an Gott wenden, das kann uns ruhig werden lassen, helfen, wieder zu uns selbst zu finden. Der Gedankenkreis wird konzentriert, auf den Punkt gebracht. Auf den Punkt, der außerhalb von uns liegt: auf Gott. Auf den Punkt, den wir auch in uns finden: auf Gott, den uns Jesus nahegebracht hat, Gott, mit dem wir im Heiligen Geist verbunden sind.
Beten schafft unsererseits eine Annäherung an Gott, denn wir erfahren nicht nur Selbstbestätigung, sondern auch Orientierung: Korrektur und Annahme. Beides liebevoll. Damit kann es uns mit der Zeit wohl auch gelingen anzunehmen, zu akzeptieren, womit wir leben müssen. Und wir können Einsicht gewinnen in das, was wir ändern und bessern können, vielleicht sogar müssen.
Im Beten mit Gott können wir unser Leben bejahen und verändern, weil wir es offenlegen vor dem, der es uns gegeben und anvertraut hat, auch und besonders um anderen Menschen wohlzutun und Gott zu ehren.
Deswegen ist Gebet nicht nur Bitte für uns selbst. Nicht mal in der Hauptsache ist es das!
Gebet ist zuerst Dank an Gott, das Gebet preist Gott! Auch Fürbittengebete fangen mit Dank gegen Gott an, loben Gott und wenden sich dann energisch und mit Blick aufs Detail dem Leid, der Not, dem Unglück, aber auch der Freude, dem Erfolg, dem Glück der anderen zu, um dann gerne ins Vaterunser zu münden: unsere Worte fließen in die Worte Jesu, uns von ihm gegeben! Dies alles in dem Wissen und dem Vertrauen, dass andere auch für uns beten. Eben: Fürbittengebete!
So ist es ein bleibender Dienst der Christenheit (wenn nicht sogar aller religiösen Menschen!), füreinander zu beten, also die Verbindung mit Gott stets gemeinsam lebendig zu halten, aber immer auch für die Menschheit als Ganze, für unsere, für Gottes Welt, in die Gott uns gestellt hat, damit wir, wie unsere Kinder, Enkel und Urenkel und deren Nachkommen überall gut auf ihr leben können.
Dafür kann man beten und sich stärken lassen, um gerne und verantwortungsvoll in Gottes, in unserer gemeinsamen Welt zu leben. Amen.