Lesepredigt zu Pfingsten 2020

Von Pfarrer Andreas Strauch

Apostelgeschichte 2, 1-21:
Das Pfingstwunder
1 Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort.
2 Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen.
3 Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen,
4 und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab.
5 Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel.
6 Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.
7 Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer?
8 Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache?
9 Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia,
10 Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen,
11 Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.
12 Sie entsetzten sich aber alle und waren ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden?
13 Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weins.
Die Pfingstpredigt des Petrus
14 Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, vernehmt meine Worte!
15 Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde des Tages;
16 sondern das ist’s, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist (Joel 3,1-5):
17 »Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben;
18 und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen.
19 Und ich will Wunder tun oben am Himmel und Zeichen unten auf Erden, Blut und Feuer und Rauchdampf;
20 die Sonne soll in Finsternis verwandelt werden und der Mond in Blut, ehe der große und herrliche Tag des Herrn kommt.
21 Und es soll geschehen: Wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll gerettet werden.«

Liebe Gemeinde,

Pfingsten – das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes;
Pfingsten – das Fest des Geburtstages der Kirche;
Pfingsten – das Fest, das so schwer zu begreifen, zu verstehen, zu erklären ist;
Pfingsten – das Fest (fast) ohne Bräuche;
Pfingsten – das dritte große Fest im Kirchenjahr neben Weihnachten und Karfreitag/ Ostern;
Pfingsten – das wichtigste Fest am Ende;
Pfingsten – das Fest der Verlegenheit, der Ratlosigkeit;
Pfingsten – das Fest der Begeisterung;
Pfingsten – das Fest der Natur;
Pfingsten – das „liebliche Fest“ (Goethe);
Pfingsten – das Fest der Einheit;
Pfingsten – das Fest der Vielfalt;
Pfingsten – das Fest der versöhnten Verschiedenheit;
Pfingsten – das Fest … …;
Pfingsten – das Fest … … !?

Was ist Pfingsten für Sie, für euch?

Der Heilige Geist lässt sich nicht begreifen, nicht anfassen, nicht festlegen. Man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht, man kann ihn aber spüren. Oder spüren, wenn und wie er wirkt. Der Heilige Geist weht, wann und wo er will. Er kann überraschen, beleben, verändern, Neues bringen, beruhigen, trösten. Er kann gewohnte Denk- und Glaubensmuster erweitern, aufbrechen, in Frage stellen, aber auch wieder neu bestätigen.

Und wie sieht es mit Pfingsten als Geburtstagsfest der Kirche aus? Man kann schon fragen: Hat die Christenheit sich dem Wirken des Geistes in den Weg gestellt, so sehr und so hartnäckig, dass der Geist seine verbindende und einigende Kraft nicht oder nur ansatzweise und gehindert entfalten konnte und kann? Wo es doch so viele Konfessionen und Richtungen innerhalb des Christentums gibt: Orthodox, Römisch-katholisch, Anglikanisch, Evangelisch – mit allen Strömungen: z.B.: griechisch-orthodox, russisch-orthodox; oder: der völlig unterschiedlich gelebte Katholizismus etwa in Mitteleuropa oder in Südeuropa, erst recht in Lateinamerika; im Protestantismus wiederum gibt es die lutherische, die reformierte, die unierte Prägung, es gibt die diversen Freikirchen und freien Gemeinden und Versammlungen, die in sich auch wieder sehr unterschiedlich sind.

Ist diese Vielfalt ein Ärgernis, weil eine Einheit mitunter nur schwerlich zu erkennen ist? Oder ist diese Vielfalt gerade im Gegenteil ein Zeichen für das vielfältige, immer wieder neue und kreative Wirken des Heiligen Geistes?

Ist die Einheit der Kirche am Ende gerade diese Gesamtheit der unterschiedlichen Richtungen und Ausprägungen des Christentums? Ergeben gerade erst die vielen Teile ein Ganzes? Kann es nicht sein: Jedes Teil, jede Richtung, jede Konfession, jede Gemeinde verkörpert einen besonderen Gesichtspunkt des Glaubens, der einen Kirche?

Und wie steht’s mit den Bräuchen zum Pfingstfest? Bräuche und Rituale gehören schließlich zur Feier eines Festes hinzu. Bei Weihnachten und Ostern gibt es das vielfältig, und in jeder Familie und jeder Gemeinde gibt es ganz bestimmte eigene Gewohnheiten, oft über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Und natürlich gibt es allgemein verbreitete Festbräuche: Weihnachtsbaum, Ostereier – beide sind nicht einmal christlichen Ursprungs, aber auf die christlichen Feste bezogen und in sie integriert. Sichtbare, sinnlich erfahrbare Bräuche sind wichtig, nicht nur für Kinder, denn so wird das Gefühl angesprochen und angeregt. Ein Fest will eben ganzheitlich begangen werden, nicht lediglich vom Kopf her ‚verstanden‘, sondern auch und erst recht will das Fest erlebt, gelebt werden. Für Pfingsten ist das sicherlich schwieriger. Zwar gibt es familiäre Traditionen: Pfingstspaziergänge, heute eher: Pfingsturlaube. Es gibt auch lokale und regionale Bräuche (Pfingstbaum, Pfingstfeuer). Aber all dies ist lang nicht so verbreitet, nicht so populär und nicht so spezifisch und einprägsam wie bei Weihnachten und Ostern. Dabei sollte doch gerade Pfingsten wirklich auch die Emotionen bewegen, eben: begeisternd, beflügelnd wirken. Da gibt es unbestreitbar Defizite. Und so wird auch der Zugang zur Bedeutung und zur Festerzählung (s.o.: Apostelgeschichte 2) des dritten großen Festes neben Weihnachten und Karfreitag/ Ostern erschwert.

Im Mittelalter war das anders. Da ließ man schon mal eine Taube durch die Kirche fliegen. Die Taube verkörpert ja in der Bibel den Heiligen Geist, so bei Jesu Taufe.
Oder: In Sizilien ließ man rote Rosen von oben in die Kirche fallen. Sie symbolisierten die Zungen, die Flammen des Feuers, von denen in der Pfingsterzählung die Rede ist (s.o.: Apostelgeschichte 2,3). Dieser einfache Brauch hat einen direkten Bezug auf die biblische Geschichte, die Festerzählung zu Pfingsten.

Menschen verschiedenster Herkunft und Sprachen, in den Versen 9-11 (s.o.) detailfreudig aufgezählt, waren zusammen, wie jedes Jahr, in Jerusalem, so ist es in der biblischen Pfingstgeschichte (Apostelgeschichte 2) dargestellt. Sie feierten – 50 Tage nach dem Passahfest – nun das Wochenfest, eben das Pfingstfest, ein jüdisches Fest zum Beginn der Ernte, ein Dank- und ein Freudenfest. Aber diesmal war es besonders: Das Fest überwältigte die Feiernden, es ergriff sie, es verwandelte sie von Grund auf. Denn es geschah etwas absolut Außergewöhnliches und Unvorhersehbares. Und noch erstaunlicher als das, was sie hörten und sahen, Brausen und gewaltigen Wind, Zungen wie Feuerflammen auf ihren Köpfen, noch erstaunlicher als das war die Wirkung. Alles wurde anders: Das Trennende war aufgehoben. Die Menschen verschiedenster Herkunft und Sprachen verstanden nun einander. Aber nicht weil sie auf einmal alle die gleiche Sprache gesprochen hätten. Sie konnten vielmehr nun auch „in andern Sprachen“ (Vers 4) sprechen – sie predigten! – und sie verstanden sich gegenseitig in ihren eigenen Sprachen: „ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.“ (Vers 6b) – Sozusagen eine vielfache Simultanübersetzung! Jeder Mensch konnte sich verständlich machen, jeder Mensch konnte alle und alles verstehen, als wär’s gerade für ihn, gerade für sie gesprochen: Pfingsten – das Fest der Verständigung!

Und die Menschen hatten lediglich ein Thema: sicherlich auch durch das Erntefest geprägt, aber erst recht wohl als Wirkung des Wunders an diesem besonderen Pfingstfest: ein Thema also: das Thema, das durch aller Munde in allen Sprachen in alle Ohren ging, direkt verständlich: dieses eine Thema war: „die großen Taten Gottes“ (Apostelgeschichte 2, 11).

Da mögen sie geredet – und sich zugehört – haben von der Erschaffung der Welt, von der Befreiung aus Ägypten, vom dem Gesetz und den Geboten, die Gott seinem Volk gegeben hatte, von Führung und Bewahrung in dessen wechselvoller Geschichte durch den treuen Gott, der sich immer wieder zu seinem Volk und dem Bund mit ihm bekannt hatte.

Und sie mögen gesprochen und gehört haben von den „großen Taten Gottes“ in ihrem eigenen Leben, dem kleinen gewöhnlichen Leben, das durch die großen Taten Gottes so groß und wertvoll war: das Geschenk der Gesundheit, das Geschenk der Familie, das Geschenk des Auskommens, das Geschenk der Zufriedenheit, das Geschenk des Segens Gottes, der auf ihrem Leben lag.

Ob sie auch über Jesus von Nazareth gesprochen haben, die ‚große Tat Gottes‘ schlechthin?

„Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: …“ (Apostelgeschichte 2, 14a). Jetzt folgt seine Predigt. Petrus sieht in dem Pfingstwunder die Erfüllung einer Verheißung. Der Prophet Joel hatte die Ausgießung des Gottesgeistes durch Gott selbst angesagt.

Aber dem Leser, der Leserin von Lukas‘ Apostelgeschichte ist sicherlich auch das Jesuswort vor seiner Himmelfahrt in Erinnerung, das Lukas im ersten Kapitel, Vers 8, überliefert: „ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.“ So spricht Petrus im weiteren Verlauf seiner Predigt von Jesus, seinem Kreuzestod, seiner Auferweckung durch Gott. Petrus deutet das Pfingstwunder noch einmal neu. Er bindet Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten zusammen: „Diesen Jesus hat Gott auferweckt; des sind wir alle Zeugen. Da er nun durch die rechte Hand Gottes erhöht ist und empfangen hat den verheißenen Heiligen Geist vom Vater, hat er diesen ausgegossen, wie ihr seht und hört.“ (Apostelgeschichte 2, 32.33) – Jetzt ist Pfingsten auch ein christliches Fest!

Der Geist Gottes kann Christenmenschen beflügeln und ihren Willen stärken und vorantreiben, einander zu verstehen. Auch unser Thema, worüber wir uns als Christen und Christinnen austauschen und verständigen, sollte sein: „die großen Taten Gottes“.

Petrus weist seine Hörer und Hörerinnen damals und uns heute ein: Kreuz und Auferstehung – das ist ‚die große Tat Gottes‘. Petrus und die anderen wurden nach der Predigt gefragt: „was sollen wir tun?“ (Apostelgeschichte 2, 37) Petrus ruft auf zur Buße und Taufe und verheißt ihnen so den ‚Empfang der Gabe des Heiligen Geistes‘ (V. 38).

Als Geistbegabte können Christenmenschen, können wir eine Fähigkeit entdecken, entwickeln, trainieren: die Fähigkeit, einander zu verstehen, andere also in deren Sprache so zu verstehen, als sei es direkt für uns übersetzt. Dabei muss es sich nicht einmal um Fremdsprachen handeln.

Auch in Fragen des Glaubens reden wir oft aneinander vorbei, missverstehen uns, misstrauen einander manchmal sogar. Schon innerhalb einer Gemeinde kommt das vor, erst recht zwischen den verschiedenen Gemeinden, Konfessionen und Kirchen.

Dabei, wenn Christen es ernst meinen, reden sie doch alle von den „großen Taten Gottes“. Sie loben Gott und danken Gott. Sie bitten um ‚Vergebung von Schuld und Erlösung von dem Bösen‘ (Vaterunser). Sie bitten voller Vertrauen, glaubend – für sich selbst und für andere – um Vergebung der Sünden (Glaubensbekenntnis). So wollen sie zu Gott, neu zu Gott finden.

Die Sprachen klingen unterschiedlich: die Liturgien, die Gottesdienste überhaupt, die Art zu beten und Worte im Gebet zu finden, das Miteinander in den Kirchen und Gemeinden – das alles ist verschieden und vielfältig. Oft kann man in all dem spüren: den Geist der Verständigung.

Wenn man einmal in einer anderen Gemeinde zu Gast ist oder am Urlaubsort den Gottesdienst besucht in der der Kirche, die eben gerade dort steht, dann kann man einiges verstehen und wiedererkennen: das Vaterunser, vertraute Elemente des Gottesdienstes. Man kann auch den guten und schönen, den herzlichen und liebevollen Umgang der Menschen in der dortigen Gemeinde wahrnehmen und erfährt ihn vielleicht auch selbst. Man kann Verständigung erleben. Die Sprache der anderen kann verständlich werden, selbst-verständlich! Und auch wir können uns verständlich machen und die Erfahrung machen, selbst verstanden zu werden.

Rote Rosen in Sizilien! Vom Himmel (symbolisch), von der Kirchendecke (tatsächlich) fallen sie herab zu Pfingsten in Sizilien, dort jedenfalls, wo dieser alte und schöne Brauch noch geübt wird. Rote Rosen! Rote Rosen schenken Liebende einander. So mag das Symbol noch tiefer gehen. Es steht für den Heiligen Geist, der ein Geist der Liebe ist. Die Liebe übersetzt uns Worte, den Glauben der anderen und schenkt gegenseitiges Verstehen. Sie stärkt uns in unserem eigenen Glauben und lässt uns den der anderen akzeptieren.

Sprachen lassen sich nicht eins zu eins über setzten. In jeder Sprache liegt eine etwas andere, eine eigene Art des Denkens und Fühlens. Insofern ergänzen sich die verschiedenen Sprachen. Zum Verständnis ist nicht nur das wörtliche Verstehen nötig. Es kommt auch und vor allem darauf an, sich gegenseitig ineinander einzufühlen, hineinzuversetzen. Liebende, miteinander Vertraute wissen das und spüren das und tun das. Ihre Kommunikation blickt tiefer als der reine Wortlaut. Der Geist der Liebe kann Christenmenschen helfen und stärken, einander zu verstehen und verstehen zu wollen.

Der Geist der Liebe kann sogar entgrenzen und helfen, als Christenmenschen den anderen Religionen respektvoll, geschwisterlich zu begegnen – mit all ihrem uns Fremden und auch dem Gemeinsamen: Dem Gedanken der Humanität und des Friedens sind alle Weltreligionen verpflichtet. Aber keine geht darin schon auf. Der Geist der Liebe ist auch der Geist der Wahrheit. Ein kritischer Geist. Liebe heißt nicht Anpassung, nicht Einebnung, nicht Nivellierung von Unterschieden und Gegensätzen, nicht Aufgabe des Eigenen, des Selbst: sondern im Selbstbewusstsein des Eigenen, gegründet im Gottvertrauen, das Wagnis der Verständigung mit Mut und Herz einzugehen. Das gelingt uns schwer aus eigener Kraft. Dazu brauchen wir den Geist Gottes. Dazu brauchen wir Pfingsten. Sanft und beharrlich kann das gehen, wie ich dem Wochenspruch zu Pfingsten entnehme: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“ (Sacharja 4, 6b)

Gottes Geist, der Heilige Geist, Pfingsten öffne uns den Blick und schenke uns das Gespür für das Verbindende und Gemeinsame der Menschen auf dieser Erde, das doch immer stärker bleibt als alle Unterschiede.

Gottes Geist, der Heilige Geist, Pfingsten schenke weltweit Verständigung und die Bereitschaft dazu, wenn es neu auszuhandeln gilt, wie die Menschheit weiterhin bzw. neu und anders miteinander gedeihlich, gerecht und im Frieden mit der Schöpfung und ihrem Schöpfer leben kann und will.

Wir leben von den „großen Taten Gottes“. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen: Frohe und gesegnete Pfingsten! Amen.

Singen des Wochenpsalms bei YouTube: Psalm 104

„Herzliche Einladung zum Mitsingen und Meditieren der Psalmen in der Weise der Responsorialen Psalmodie, des Psalmodierens mit einem Antwortruf. Ein Ruf – ein Herzwort des Psalms – wird immer wieder wiederholt, verinnerlicht, meditiert. Die Psalmen erklingen in der Übersetzung des „Münsterschwarzacher Psalters“. Die „Preisungen – Psalmen mit Antwortrufen“ und „Cantica – Biblische Gesänge mit Antwortrufen“ sind im Vier-Türme-Verlag Münsterschwarzach erschienen (www.vier-tuerme-verlag.de). Das Bild zum Psalmvers „Singt dem HERRN ein neues Lied …“ ist dem „Stuttgarter Psalter“ entnommen, einer Psalterhandschrift vom Anfang des 9. Jahrhunderts, die heute in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart aufbewahrt wird. www.stillezeiten.de “ (Text und Bild stammen von der YouTube-Seite)

Lesepredigt zum Sonntag Exaudi 2020

Von Pfarrer Andreas Strauch

Epheser 3, 14-21 (Episteltext zum Sonntag Exaudi):
Die Fürbitte des Apostels für die Gemeinde
14 Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater,
15 von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf Erden seinen Namen hat,
16 dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen,
17 dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne. Und ihr seid in der Liebe eingewurzelt und gegründet,
18 damit ihr mit allen Heiligen begreifen könnt, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist,
19 auch die Liebe Christi erkennen könnt, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet, bis ihr die ganze Fülle Gottes erlangt habt.
20 Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt,
21 dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus durch alle Geschlechter von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Liebe Gemeinde, der Sonntag Exaudi ist der Sonntag zwischen Himmelfahrt und Pfingsten: der Sonntag, der, wenn wir das Kirchenjahr bewusst in seiner zeitlichen Abfolge mitfeiern und mitdenken, quasi eine Leerstelle bietet:
Jesus: zum Himmel aufgefahren.
Der verheißene Geist, der uns spüren lassen will, dass Jesus bei Gott und bei uns ist – jederzeit und überall – und uns miteinander verbindet und eint und so mit Gott und mit Jesus in Verbindung hält, dieser Geist, der das bewirkt: noch nicht da, erst an Pfingsten!

Nun ist der Sinn des Kirchenjahres ja gerade, die Fülle Gottes, das Geheimnis seiner Liebe – und was das alles mit uns macht und wie es unser Leben prägt und trägt, nach und nach, Schritt für Schritt zu entfalten und nachzuvollziehen. Alles auf einmal wäre zu viel für unser Aufnahmevermögen.

Aber selbst jeder einzelne Schritt nimmt uns nicht das Geheimnis des Glaubens und der Liebe Gottes: Weihnachten/ Epiphanias – Karfreitag/ Ostern/ Himmelfahrt – Pfingsten: Alles, jedes einzelne Fest, jeder einzelne Gedenk-, Feiertag übersteigt letztlich unser volles Verstehen. Es bleibt immer ein Rest, der über alles Begreifen geht.

Gottes Friede ist ‚höher als alle Vernunft‘ (Philipper 4, 7) – so beschließen wir jede Predigt und lassen ihn als Kanzelsegen auf uns kommen, halten uns jedenfalls offen.

Der Sonntag Exaudi – diese vermeintliche Leerstelle im schrittweisen Durchschreiten des Kirchenjahres, zwischen Himmelfahrt und Pfingsten – macht uns in besonderer Weise aufmerksam für unseren angemessenen Zugang zu Gott, dem göttlichen Geheimnis, ebenso wie zu unserem Leben, das von Gottes Liebe, dem Geheimnis des Glaubens getragen, durchdrungen, erfüllt ist.

Dieser uns angemessene Zugang ist das Gebet.

Der oben stehende Text aus dem Epheserbrief ist in der Luther-Bibel überschrieben mit: ‚Die Fürbitte des Apostels für die Gemeinde‘.

Wir nähern uns dieser ‚Fürbitte des Apostels für die Gemeinde‘ am besten, wenn wir sie nicht nur als Gebet eines fernen Apostels für eine ferne Gemeinde verstehen, sondern auch und gerade als Gebet für unsere Gemeinde, in der wir leben. Für alle Menschen unserer Gemeinde und für jeden einzelnen Menschen in unserer Gemeinde.

Der Apostel nähert sich mit diesem Gebet dem an, was von Gott her längst geschehen ist und da ist – und sich immer wieder und immer neu ereignen wird. Im Gebet wird es besonders bewusst und vergegenwärtigt. Spüren wir also diesem Gebet für die Gemeinde nach. Öffnen wir uns für dieses Gebet als ein Gebet, das uns gilt, nicht nur uns, aber auch uns. Folgen wir dem Gebet des Apostels, das auch unsere Wahrheit und Wirklichkeit vor Gott ausspricht und aufnimmt und vor Augen stellt.

Das Gebet beginnt mit einer Geste, die selten geworden ist: dem Kniefall. Wir kennen sie von Trauungen und Konfirmationen. Als ich konfirmiert wurde, haben wir auch das Abendmahl im Knien empfangen.

Das Knien vor Gott symbolisiert die Bereitschaft, etwas zu empfangen: die Abendmahlsgaben, den Segen Gottes: als Jugendlicher, nachdem man einige Zeit ganz bewusst sich mit dem Dreieinigen Gott in einer Gemeinde und darin besonders in einer Gruppe von ungefähr gleichaltrigen Mit-Konfis auseinandergesetzt hat und vor allem Gottes Liebe und Fürsorge in Gottesdiensten mit und in der Gemeinde gefeiert hat. Den Segen Gottes: später, wenn man mit einem Menschen das Leben teilen will und sich so gemeinsam Gott anvertraut.
Knien vor Gott ist die Haltung der Empfangsbereitschaft.
Wer kniet vor Gott, macht sich kleiner, um Großes zu empfangen.
Wer kniet vor Gott, begibt sich in eine Haltung, wo man im Moment kaum handlungsfähig scheint, und tut dies, um sich stärken zu lassen für ein aktives Leben.

Wer betet, spricht zwar, möchte aber zugleich und vor allem: empfangen. Neue Kraft.
Aus dem Sprechen zu Gott wird ein Hören auf Gott.
Die Worte, die wir im Gebet sagen, wandeln sich allmählich in Worte, die Gott uns sagt.

Das alles meint der Kniefall vor Gott. Er zeigt die Richtung unserer Haltung, die Bereitschaft, den Willen zu völliger Offenheit für Gott, tiefem Vertrauen zu Gott, kindlicher, das heißt vorbehaltloser Vertrautheit mit Gott. Die Bereitschaft und den Willen, sich von Gott stärken, beschenken, erfüllen zu lassen. Dies alles wieder aufs Neue.

Der Apostel beugt sich vor Gott, dem Vater, um anzunehmen, sich aktuell anzueignen, was Gott längst getan, gegeben hat und wieder und wieder gibt. Bei jedem Gebetsakt ist das so.

Der Apostel bittet um ‚Kraft nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit‘. Sie soll bewirken, dass der innere Mensch, der Mensch von innen heraus gestärkt werde durch Gottes Geist (nach Epheser 3, 16), und er betet darum, „dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne.“ (Epheser 3, 17a) Der Apostel stellt in dem Gebet fest und spricht der Gemeinde zu, was er, der Apostel, und sie, die Gemeinde, von Gott zugesprochen bekommt. Beten und empfangen gehen hin und her. Das also gilt der Gemeinde: „ihr seid in der Liebe eingewurzelt und gegründet“. (Epheser 3, 17b) Christus also, so betet der Apostel, möge bei uns einziehen, nicht nur in unser Haus, nicht nur in das Haus der Gemeinde, nicht nur in das Gemeindehaus schlechthin, die Kirche, sondern in unsere Herzen. Da möge er Wohnung finden, da mögen wir Christus beherbergen.

Jesu Eltern, Maria und Josef, hatten ja schon einmal „keinen Raum in der Herberge“ gefunden (Lukas 2, 7b). Von alleine öffnen sich Türen und Herzen nicht immer.

Christus im Herzen. Das beschreibt den Glauben: der Glaube sozusagen als Herzensweitung. Damit Platz für Christus bleibt. Glaube macht die Herzen weit und frei und offen, um aus dem Kreisen um sich selbst auszubrechen, um aus dem Blickwinkel der eigenen Sorgen und Wünsche, Probleme und Sehnsüchte herauszutreten, um andere genauer wahrzunehmen: ihre Sorgen und Wünsche, ihre Probleme und Sehnsüchte, um ihr Eigenes, ihr Anderes, nicht Austauschbares zu entdecken, genauso wie das Gemeinsame, Verbindende.

So stehen wir gemeinsam vor Gott, lassen uns von Gott füllen, dem Gott, der Mensch wurde und nun das Göttliche und das Menschliche in sich vereint: „Ich und der Vater sind eins.“ (Johannes 10, 30) Nicht mehr nur auf der Erde besucht uns Jesus und bringt uns Gott nahe, sondern in unserem Herzen will Christus wohnen, damit uns Gott nahe bleibt, damit wir Gott in uns tragen, jederzeit und überall. Wo wir auch sind. Wann auch immer.

Gott bleibt nicht bei sich selbst. Mit Christus im Herzen bleiben auch wir nicht bei uns selbst, sondern wenden uns anderen zu, so gut wir das können und so gut das für andere ist. So wie wir selbst von der guten Zuwendung anderer leben.

Das sind die Konsequenzen des Gebetes des Apostels für die Gemeinde. Der Apostel beschreibt, was ist, damit es neu wird. Er bittet, dass geschieht, was von Gott her längst ist.

Und so beschreibt er uns als in der Liebe eingewurzelt und gegründet. Wiederum, damit sich das auch zeigt und bewahrheitet. Dafür ist aber die Erinnerung, die Bewusstmachung, die Vergegenwärtigung im Gebet wichtig.

Der Apostel malt ein eindrückliches Bild. Wurzeln stehen für Kraft und Stärke. Mit diesem Bild beschreibt er unseren Halt und unseren Stand in der Liebe. Liebe ist eine starke Macht.
Wurzeln bieten Halt und Standfestigkeit, sie trotzen Stürmen, die von außen kommen.
Wurzeln breiten sich aus.
Wurzeln nähren. Die Liebe!
Eingewurzelt in der Liebe – ein eindrückliches Bild für die Kraft, die uns Gott geschenkt hat und immer neu schenkt.

Die Liebe ist es, der wir uns täglich verdanken: Wir sind da, wir können leben. Vielleicht gesund, vielleicht krank, vielleicht vital, vielleicht hinfällig, vielleicht froh, vielleicht unglücklich – so klar lässt sich das ohnehin nicht immer trennen und auseinanderhalten. Bestimmt aber: getragen und bewahrt, angenommen und geliebt. Von Menschen. Durch ihre Herzlichkeit, ihre guten Worte, ihr stilles Verstehen, ihre umstandslose Hilfe. Ich meine, wir sehen darin die Liebe Gottes, ihre Zeichen und Spuren.

Wir sehen und spüren die Liebe Gottes auch in der Natur, die – so sehr sie geschunden und ausgebeutet ist, so arg sie leidet und erhitzt und verdorrt – doch immer noch und immer wieder so unendlich viel Schönes bereithält und hervorbringt. Sie erfreut uns, obwohl wir sie oft und, auf‘s Ganze gesehen, nicht gut behandeln. Sie erfreut uns gerade in dieser Jahreszeit, wo ständig Neues blüht und grünt – geradezu ein Sinnbild für die verschwenderische Fülle Gottes.

Die Liebe Gottes ist das glatte Gegenteil von allem Berechnen, Einteilen, Abwägen, Ausmessen und Zumessen. Liebe ist großzügig, verschwenderisch, rechnet nicht und zählt nicht.

Wir erfahren die Liebe aber auch – das ist am Ende bald das Wichtigste – in der Fähigkeit, die wir bei uns selbst bemerken, dass wir Liebe schenken können und es auch tun: für andere Meschen da zu sein, ihnen offen zu begegnen: mit unserem Innersten, unserem Herzen, von Christus, der in ihm wohnt, geweitet.

So kann man von sich selbst absehen, sich loslassen, sich anderen zuwenden und hingeben, sich auf sie einzulassen, ihnen zuhören, mit ihnen denken und sprechen. Mit dem Herzen, dem von Christus bewohnten und geweiteten Herzen, bei anderen zu sein – so findet und gewinnt man Leben. Das ist Gottes Geheimnis der Liebe und der Hingabe. Von Jesus ist das Wort überliefert: „Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“ (Matthäus 10, 39)

Nun wird Liebe oft genug versagt. Unser Miteinander in der Gesellschaft ist auch von Gleichgültigkeit gegenüber anderen oder Berechnung oder Egoismus oder Übervorteilung oder Überheblichkeit oder Abwertung oder Ausgrenzung geprägt. Auch in Gemeinden kommt das vor. Darunter leiden Menschen. Und an dem, worunter sie leiden, was ihnen fehlt, merken sie, wie lebensnotwendig der respektvolle, den Wert anderer hochschätzende Umgang ist. Wir leben von Liebe, die den Mitmenschen als von Gott geachtet und geliebt sieht und behandelt. Wir brauchen sie.

Das Gebet um unsere Einwurzelung und Gründung in der Liebe, auch darum, dass Christus in unseren Herzen wohnen und wohnen bleiben möge, überholt sich keineswegs! Gebet ist auf Wiederholung, auf Übung angelegt.

Das Gebet des Apostels für die Gemeinde und die Gemeinden richtet sich an Gott, der über alles Begreifen und Verstehen hinaus ist. Gott entzieht sich unseren Mitteln, etwas zu erfassen: Sprache, Vorstellungskraft, Gefühle, Logik, Mathematik, Naturwissenschaft. Auch dem Bemühen der Philosophie, ja selbst: der Theologie ist Gott wieder und wieder entzogen.

Gott wendet sich uns aber zu und kommt uns näher als wir’s zu fassen vermögen. Das Gebet, ‚dass Christus durch den Glauben in unseren Herzen wohne‘, ist ja selbst der Versuch, Gottes unbegreifliche Nähe sprachlich, bildlich, sprachbildlich zu fassen.

Gott lässt sich nicht vermessen, und doch soll das Bild von Christi Einwohnung in unseren Herzen und unserer Einwurzelung und Gründung in der Liebe uns eine Erkenntnis erlauben und ermöglichen: „damit ihr mit allen Heiligen begreifen könnt, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen könnt, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet, bis ihr die ganze Fülle Gottes erlangt habt.“ (Epheser 3, 18+19)

Breite, Länge, Höhe, Tiefe – man spürt die Weite, die Unfassbarkeit, die Uneinholbarkeit Gottes. In keinem Koordinatensystem lässt sich Gott verorten und festschreiben. Die Erkenntnis, die der Glaube schenkt, richtet sich auf etwas, das alle Erkenntnis übertrifft: „damit ihr … die Liebe Christi erkennen könnt, die alle Erkenntnis übertrifft“ (s.o.). Unsere Gotteserkenntnis fängt, was sie erkennen will, nie ein. Die Liebe ist immer mehr als alles Begreifen, Verstehen, Erkennen. Gott auch. Christus auch. Christi Liebe auch.

So lange bleibt die Gotteserkenntnis offen, „bis ihr die ganze Fülle Gottes erlangt habt.“ (s.o.)

So lange bleiben Gebete unüberholt, notwendig, sinnvoll, hilfreich – für uns selbst und für andere. Wir können diesen Abstand nicht überwinden. Aber ‚Christus möge durch den Glauben in uns wohnen, wir sind in der Liebe eingewurzelt und gegründet.‘ Das ist mehr als genug für jeden Tag und für ein ganzes Leben.

Gott hebt den Abstand auf, Gott ergreift uns, unsere Herzen, unser Denken, unser Tun und Lassen. Gott versteht uns. Besser versteht Gott uns als wir uns selbst verstehen. Jesus hat’s seine Jüngerinnen und Jünger gelehrt, als er ihnen sein Gebet an unseren gemeinsamen Vater an die Hand gab und in den Mund legte: „euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“ (Matthäus 6, 8b)

Liebe Gemeinde, es ist eine leidvolle Erfahrung für viele Menschen: Viele Gebete bleiben unerhört – meinen sie, empfinden sie. Bleiben die Gebete auch ungehört? Auch das ist eine Frage des Sonntages Exaudi, der seinen lateinischen Namen aus Psalm 27, 7 bezieht (lat. exaudire = hören, erhören): „Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir gnädig und antworte mir!“

Ich sage hier einmal paradox und überspitzt: Es werden auch Gebete erhört, die gar nicht stattgefunden haben. Oder klarer: Gott hat aus unseren Gebeten, den selbst formulierten wie auch dem Gebet mit Jesu Worten, dem Vaterunser, das gehört und das erhört, was uns gut und lebensdienlich ist. Das ist die Gotteskraft, die „überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt“ (Epheser 3, 20).

Suchen Sie einmal in Ihrem Leben: Was haben Sie Gutes bekommen, ohne darum gebeten oder gebetet zu haben? Welche Menschen haben Sie kennengelernt, die Ihnen gutgetan haben, mit denen Sie nie gerechnet, auf die Sie nie gehofft, nie gewartet, um die Sie nie gebetet haben? Welche Aufgaben sind Ihnen zugewachsen, die Sie sich nicht gesucht haben, für die Sie sich vielleicht auch gar nicht geeignet hielten, die Sie aber erfüllen konnten und die Sie erfüllt haben und segensreich wirken ließen?

Und forschen Sie noch weiter: Nicht allein: Was ist Ihnen Gutes widerfahren, ohne dass Sie’s gesucht oder erbeten hätten? Sondern auch: Was ist Ihnen – Gott sei Dank! – erspart geblieben, weil es anders kam, als Sie’s gewollt und erbeten haben?

Dies alles sind ja nur vage Andeutungen und Ausblicke über unseren begrenzten Horizont hinaus: hinein in das Wirken und Walten des unendlichen und unbegreiflichen Gottes. Gott ist uns ferner als es menschlichem Scharfsinn erscheinen will. Und näher als es das menschliche Herz zu fühlen vermag!

Dass Gott uns versteht, ist wichtiger als dass wir Gott verstehen.

Dass Gott uns liebt und zur Liebe befähigt, dürfen wir glauben. Gott dürfen wir vertrauen. Unsere Lieben Gott anvertrauen im Gebet, wie auch unsere Gemeinde, unsere Gesellschaft, unser Leben, unsere Welt – mit allem, was auf ihr lebt und leben will und leben wird. Vom Gebet begleitet, getragen, ermutigt unseren Glauben und unsere Liebe, beides von Gott gewirkt, zu leben – das ist viel und das ist schön. Es wird uns Kraft geben. Kraft von Gott. Gottes Fülle wird das Ihre tun und geben. Amen.

Singen des Wochenpsalms bei YouTube

Psalm 27 (7. Woche der Osterzeit – Exaudi)

Herzliche Einladung zum Mitsingen und Meditieren der Psalmen in der Weise der Responsorialen Psalmodie, des Psalmodierens mit einem Antwortruf. Ein Ruf – ein Herzwort des Psalms – wird immer wieder wiederholt, verinnerlicht, meditiert. Die Psalmen erklingen in der Übersetzung des „Münsterschwarzacher Psalters“. Die „Preisungen – Psalmen mit Antwortrufen“ und „Cantica – Biblische Gesänge mit Antwortrufen“ sind im Vier-Türme-Verlag Münsterschwarzach erschienen (www.vier-tuerme-verlag.de). Das Bild zum Psalmvers „Singt dem HERRN ein neues Lied …“ ist dem „Stuttgarter Psalter“ entnommen, einer Psalterhandschrift vom Anfang des 9. Jahrhunderts, die heute in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart aufbewahrt wird. www.stillezeiten.de “

Lesepredigt zu Christi Himmelfahrt 2020

Von Pfarrer Andreas Strauch

1. Könige 8, 22-24.26-28:
22 Und Salomo trat vor den Altar des Herrn angesichts der ganzen Gemeinde Israel und breitete seine Hände aus gen Himmel
23 und sprach: Herr, Gott Israels, es ist kein Gott weder droben im Himmel noch unten auf Erden dir gleich, der du hältst den Bund und die Barmherzigkeit deinen Knechten, die vor dir wandeln von ganzem Herzen;
24 der du gehalten hast deinem Knecht, meinem Vater David, was du ihm zugesagt hast. Mit deinem Mund hast du es geredet, und mit deiner Hand hast du es erfüllt, wie es offenbar ist an diesem Tage.
… … …
26 Nun, Gott Israels, lass dein Wort wahr werden, das du deinem Knecht, meinem Vater David, zugesagt hast.
27 Denn sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?
28 Wende dich aber zum Gebet deines Knechts und zu seinem Flehen, Herr, mein Gott, auf dass du hörst das Flehen und Gebet deines Knechts heute vor dir.

Lukas 24, 50-53:
Jesu Himmelfahrt
50 Er führte sie aber hinaus bis nach Betanien und hob die Hände auf und segnete sie.
51 Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel.
52 Sie aber beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude
53 und waren allezeit im Tempel und priesen Gott.

Liebe Gemeinde, seit jeher fasziniert der Himmel die Menschen. Der Himmel weckt Sehnsucht im Menschen. Der Blick in den Himmel lässt staunen: makelloses Blau, Wolkenformationen, Schönwetterwolken, feine Schleierwolken, dunkle Wolken, Abendrot – manchmal durch Wolken reflektiert, so dass das Rot bis nach Osten zurückstrahlt! Manchmal ist der Himmel auch grau – oder weiß. Der Himmel erscheint wie ein Bogen, der sich von Horizont zu Horizont spannt, eine Haube über uns. Der Blick in den Himmel: grenzenlose Weite. Der Sternenhimmel nachts: unendliche Fülle, erhaben. Wir erleben uns als Teil der Schöpfung. Klein oder groß!

Der Himmel weckt Sehnsucht im Menschen. So dass dieser über sich hinausgeht. Den Menschen hat es in den Himmel gezogen. Da merkt er seine Grenzen – und seine Sehnsucht.

Gott im Himmel? Ein Theologe hat einmal bemerkt: „Nicht wo der Himmel ist, ist Gott, sondern: wo Gott ist, da ist der Himmel.“

Menschen suchen Gott, fragen nach Gott. Nicht immer finden sie Gott. Menschen erfahren nicht nur den nahen, sondern auch den fernen, nicht nur den offenbaren, sondern auch den verborgenen, nicht nur den zugewandten, sondern auch den sich abwendenden, sich entziehenden Gott. Glückliche und schmerzliche Erfahrungen sind das. Schmerzlich ist es, wenn wir nur noch dunkles Schicksal spüren, Einsamkeit, Lieblosigkeit, Verlust, Trauer, Leere, Aussichtslosigkeit. Gut ist es, wenn die Sehnsucht nicht stirbt. Im Schmerz nicht und auch im Glück nicht! Dann und wann, hier und da findet die Sehnsucht spürbar Erfüllung – jedenfalls im Ansatz: Momente der Stimmigkeit, des Glücks, des Einklangs, der Gemeinschaft, der Vergebung, des Trostes, des Verständnisses, der Freude. Wir spüren die Weite in unserem Leben. Raum und Zeit zum Leben. Himmel über uns. Boden, der trägt. Gott bei uns.

So oder so: Gerade der glaubende Mensch weiß: Wir können über Gott nicht verfügen. Vertrauen ist nicht Verfügen, nicht Beherrschen. Wir können Gott nicht herbeinötigen und nicht für unsere Wünsche, Vorstellungen, Ziele in Gebrauch nehmen. Vielmehr: Gott kommt auf uns zu, dann und wann, hier und da – wenn wir nicht mit Gott rechnen oder auch: wenn wir zu Gott flehen. Wir wissen es nicht, es kann aber sein, dass Gott uns ergreift, durchfährt, erschüttert oder beruhigt. Je nachdem. Christenmenschen halten sich offen für Gott, damit Gott – zu unserem Guten wirkend – uns offen vorfindet.

So macht es auch schon Salomo: Er weiht den neu gebauten Tempel Jerusalems ein. Er betet zu Gott „und breitete seine Hände aus gen Himmel“ (s.o. 1. Könige 8, 22b). Sichtbar hält sich Salomo offen für Gott. Und beschränkt Gott eben nicht auf den Tempel! Das Tempelgebäude will Gott nicht einfangen, einengen, festhalten, gewiss auch nicht festlegen: „Denn sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“ (1. Könige 8, 27) – Nebenbei: Dieser Vers wird gerne bei Kircheneinweihungen zitiert!

Menschen brauchen Orte, die ihnen bei ihrer Offenheit zu Gott helfen. Wo sie ablegen können: ihre Sorgen, ihre hinderlichen Gedanken, ihre Alltagsgeschäfte. Man wird all das nicht einfach verlieren, man sollte all das auch nicht verdrängen. Aber man kann frei und offen werden für Anderes, Neues, Gutes, Wegweisendes, Entlastendes: offen für Gottes Einzug in uns.

Der Tempel war ein solcher Ort. Kirchengebäude sind es auch. Sie halten sich offen hin zum Himmel, zeigen dies in der Architektur: Turm, Gewölbe, Streben nach Höhe oft auch in der Fensterform. (Decken-)Gemälde lassen den Blick in den Himmel wandern, nach oben, zu Gott, über uns hinaus – hinein in die umfassende Wirklichkeit, deren Teil wir sind und die uns viel zu geben hat. Von der wir leben.

Kirchengebäude helfen uns also, zu Gott zu finden bzw. uns für Gott bereit zu halten. Aber es geht überall! In besonders schönen Orten der Natur – unter Gottes freiem Himmel – sicherlich besonders gut.

Als Jesus in den Himmel auffuhr, wie es die Bibel kurz und knapp erzählt (s.o.: Lukas 24, 50-53), als er sich also von seinen Jüngern verabschiedete – mit seinem Segen! – da weinten sie nicht und trauerten sie nicht, sondern: sie „beteten ihn an“ (Lukas 24, 52). So konnten sie Jesus nahe bleiben, die Verbindung halten, sich von ihm füllen lassen. Und sie wurden tatsächlich erfüllt: „mit großer Freude“ (Lukas 24, 52). Das blieb vielleicht kein durchgängiges, gewiss aber ein tragendes Gefühl. Und der Tempel war der Ort, wo sie sich zusammenfanden und in dieser Freude ‚Gott priesen‘ (Lukas 24, 53). Damit endet übrigens das Lukas-Evangelium. Das zweite Buch des Evangelisten Lukas, die Apostelgeschichte, enthält gleich im ersten Kapitel eine zweite Erzählung über Christi Himmelfahrt, ein wenig ausführlicher. Wohlgemerkt: Es ist derselbe Autor, der beide Fassungen seiner Erzählung über Christi Himmelfahrt sicherlich bewusst und gezielt so platziert: an das Ende des einen und an den Anfang des nächsten Buches, quasi als Scharnier.

Salomo, die Jünger, Christenmenschen aller Couleur: In der offenen Haltung zu Gott werden wir Erfahrungen machen mit Gott. Nichts können wir erzwingen. Aber wir müssen auch nicht ausschließlich warten. Das Gebet ist unsere Möglichkeit, unser Weg, selbst aktiv zu werden, die Offenheit zu Gott mit Leben zu erfüllen. Besondere Orte und Zeiten erleichtern uns das Gebet – keine Frage! Aber wirklich notwendig sind besondere Orte und Zeiten nicht. Jederzeit und überall können wir uns offenhalten für Gott. Gebete sind orts- und zeitunabhängig!

Schließlich: Beten heißt nicht nur Reden. Besonders wortreich muss es schon gar nicht sein. Hören, Wahrnehmen, Hinschauen, Aufnehmen ist mindestens so wichtig. Wie oft zeigt sich Gott in Worten und Gesten des Alltags: im Gespräch mit Menschen, in ihrem Verstehen und Ermutigen oder in ihrem Mahnen und Warnen, in ihrem liebevollen, oft unauffälligen Tun. In all dem kann, ohne dass es uns bewusst ist oder wird, Jesus mitten unter uns sein.

Das ist Christi Himmelfahrt: Jesus Christus ist nicht mehr an Ort und Zeit gebunden. Überall und jederzeit können wir ihm begegnen. In Situationen der Freude und in Situationen des Leidens, im Glück, in der Einsamkeit … . Kein Ort, kein Tag, den Jesus meiden würde. Nicht immer entdecken wir ihn, aber es wollen, Augen und Ohren, Kopf und Herz offenhalten für ihn, das können wir – oder können es üben, trainieren. Ich bin gewiss: Jesus Christus ist uns viel näher als wir ahnen. Amen.

Lesepredigt zum Sonntag Rogate (= „Betet!“) 2020

Von Pfarrer Andreas Strauch

Johannes 16, 23b-33:

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben.
24 Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei.
25 Das habe ich euch in Bildern gesagt. Es kommt die Stunde, da ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen von meinem Vater.
26 An jenem Tage werdet ihr bitten in meinem Namen. Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde;
27 denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin.
28 Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.
29 Sprechen zu ihm seine Jünger: Siehe, nun redest du frei heraus und nicht in einem Bild.
30 Nun wissen wir, dass du alle Dinge weißt und bedarfst dessen nicht, dass dich jemand fragt. Darum glauben wir, dass du von Gott ausgegangen bist.
31 Jesus antwortete ihnen: Jetzt glaubt ihr?
32 Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.
33 Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.

Liebe Gemeinde, der Mensch lebt davon, dass er sich mitteilt. Auch wenn man manches mit sich selbst ausmacht und ausmachen muss – es ist doch wichtig, sich auch mit anderen zu besprechen, von den eigenen Sorgen, dem eigenen Glück, den Ängsten und Hoffnungen anderen zu erzählen, andere daran teilhaben zu lassen.

Gerade wenn man manches mit sich selbst ausmacht, führt das Bedürfnis sich mitzuteilen, sich zu äußern, gut zum Gebet. Da kann mit dem Innersten, das man preisgibt, nichts Böses passieren. Niemand kann es weitererzählen an Menschen, die’s nix angeht, die’s nicht hören sollen. Man ist auch nicht Unverständnis, Desinteresse, Gleichgültigkeit oder – im Gegenteil – unangemessener Neugier ausgesetzt.

Ich meine, liebe Gemeinde, das Gebet tut gut, dient der eigenen Entlastung, Sortierung, Klärung, auch dann, wenn man gut und gerne mit anderen Menschen sprechen kann.

Es gibt ja Menschen, denen man gut und gerne vertrauen kann und mit denen man jedenfalls so manches (es muss ja nicht alles sein!) besprechen kann. Wer ist das bei Ihnen, bei euch? Gleichaltrige Freunde, Freundinnen? Freundinnen und Freunde, die deutlich älter oder deutlich jünger sind? Die Eltern? Die Kinder? Tanten, Onkel, Neffen, Nichten? Zu manchen von ihnen besteht ja ein gutes, freundschaftliches, vertrauensvolles, inniges Verhältnis! Auch mit vielen Ärzten, Lehrerinnen, Pfarrern, auch mit Rechtsanwältinnen kann man gut reden. Sie alle haben Schweigepflicht und bemühen sich – aus ihrer Sicht – um Verständnis, Teilnahme, Rat und Hilfe, wenn nötig, wenn möglich, wenn gewünscht!

So wie sich Menschen Vertrauenspersonen offen anvertrauen, so können und dürfen wir gewiss auch uns Gott anvertrauen, ohne Scheu und Scham, ohne die Sorge, abgelehnt oder nicht ernst genommen zu werden.

Nur eine Schwierigkeit lässt sich nicht übersehen: Gott ist nicht zu sehen. Und wir können zwar zu Gott reden, mit Gott offen sprechen, aber hört Gott uns? Gibt es eine Antwort? Wie nehmen wir die wahr?

Wenn wir allerdings etwas aufschreiben, das jemand anderes lesen soll – ich rede jetzt nicht von Kurznachrichten, eher von Briefen oder E-Mails – gibt’s auch keine direkte, prompte Antwort. Aber schon das Schreiben tut gut. Und wenn die Antwort kommt, können wir sie lesen – oder man trifft sich vorher und spricht dann doch direkt miteinander.

Die Kommunikation mit Gott im Gebet ist schon eine andere. Die Offenheit, die Vertrautheit kann unbegrenzt und uneingeschränkt sein – wie bei einem vertrauten Menschen – oder sogar noch offener – da muss nichts verborgen bleiben. Aber was damit geschieht, was wir Gott anvertraut haben, was Gott damit macht, das liegt im Verborgenen. – Das macht das Beten nicht überflüssig und nicht sinnlos! —

Liebe Gemeinde, die christlichen Feste im Kirchenjahr lassen sich unter dem Gesichtspunkt verstehen, dass Gott sich den Menschen begreifbar und sichtbar macht und dass Gott bei den Menschen ist und bleibt und weiterhin für sie da ist.

So heißt es in Johannes 16, 28: „Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“ Darin findet sich, was wir zu Weihnachten, Karfreitag, Ostern und Himmelfahrt feiern.

Dass Jesus die Menschen sozusagen besucht hat, lässt diese nicht unverändert. So wie ein lieber Besuch immer etwas Gutes mit einem macht und auch etwas Gutes zurücklässt, wenn er sich wieder verabschiedet und geht.

So lässt der Evangelist Johannes an anderer Stelle, im gleichen Kapitel 16, aber sogar schon vorher, vorweg, Jesus sagen (Johannes 16, 6b.7): „… ist euer Herz voll Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden.“

Jesus hat die Menschen besucht. Gott hat menschlich mit den Menschen geredet. Von Mensch zu Mensch. Hat mit ihnen gegessen und getrunken. Vor 2000 Jahren, als Jesus auf der Erde mit den Menschen seiner Zeit sein Leben teilte. Die Menschen begriffen: Dieser Mensch, so menschlich er ist, ist ein besonderer Mensch. Sicher: Jeder Mensch ist besonders. Aber das Besondere dieses Menschen war: Durch die Art und Weise, wie er lebte, was er tat und sagte, und wie er es tat und sagte, haben die Menschen gespürt: Da ist Gott. Der ist Gott. Gott auf der Erde. Gott bei uns. Gottes Sohn. Wer Kontakt zu Jesus hatte, hatte Kontakt zu Gott. Wer mit Jesus sprach, sprach mit Gott. Zu wem Jesus sprach, zu dem sprach Gott. Mehr und mehr merkte man, dass es in diese Richtung ging. Im Menschen Jesus wurde mehr und mehr Gott selbst erkennbar und erkannt.

Umso stärker stellte sich die Frage, ob der Kontakt mit Gott denn bleibt, wenn Jesus nicht mehr da ist. Kein Mensch lebt ewig auf Erden. Auch Jesus nicht.

Aber ein Mensch, wenn er nicht mehr da ist, hinterlässt etwas. Vor allem: Er hat das Leben derjenigen, die mit ihm gelebt haben, geprägt. Und kann weiterhin wirken.

Jesus hat den Menschen Gott nahegebracht. Und das wirkte und wirkt. Jesus hat versprochen, ‚den Tröster‘ zu den Menschen zu ‚senden‘, den Heiligen Geist. Die Verbindung zu Gott und mit Gott bleibt, über seinen Weggang hinaus. Weggang ist nicht nur sein Tod. Tod, Auferstehung, Himmelfahrt – das ist ein Geschehen beim Evangelisten Johannes: der Weggang Jesu von den Menschen, der ihnen den unmittelbaren Zugang zu Gott eröffnet. Über seinen Weggang hinaus: d.h. auch für die Menschen später, nicht nur für die Menschen, die ihn damals in den wenigen Jahren im kleinen Landstrich Palästina kennenlernen durften. Auch für uns ist der Zugang zu Gott direkt möglich. Deswegen brauchen wir nicht zu Jesus zu beten. Wir können das, aber Jesus schickt unsere Gebete zu Gott.

Es ist angemessen, in Jesu Namen zu beten. Das hören wir in unserem Abschnitt aus dem Johannes-Evangelium (s.o.) mehrfach. Im Gedenken an den Menschen Jesus, in der Vergegenwärtigung des Menschen Jesus, der uns Gott nahegebracht hat. Aber: Jesus ist nicht als Vermittler notwendig. Der Zugang zu Gott ist frei.

Jesus sagt den merkwürdigen Satz (Johannes 16, 26b): „Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde“. Das Beten in Jesu Namen zu Gott, dem Vater, reicht für die direkte Kommunikation mit Gott: „denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin.“ (Johannes 16, 27) Gottes Liebe trifft uns direkt!

Jesus tröstet seine Jünger und Jüngerinnen, diejenigen also, die sich von Jesus Gott haben nahebringen lassen. Er tröstet sie und stellt ihnen in Aussicht: Gottes Liebe wirkt und gilt euch unmittelbar. Denkt ihr an mich, haltet ihr mich im Gedächtnis lebendig, betet ihr in meinem Namen, habt ihr ohne Weiteres Zugang zu Gott. – Jesus und wer ihm nachfolgt, schlagen die gleiche Richtung ein: „ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“ (Johannes 16, 28b) Unser Gebet lenkt unsere Gedanken zu Gott, unserem gemeinsamen Vater.

Die Frage nach der Kommunikation mit Gott findet sich natürlich auch in den anderen Evangelien, und Matthäus und Lukas überliefern als eine Antwort darauf das wohl bekannteste Gebet: das Vaterunser.

Bei Matthäus steht es an hervorgehobener Stelle: im Zentrum der Bergpredigt. Jesus gibt seinen Zuhörerinnen und Zuhörern das kurze, konzentrierte Gebet – und wendet sich gegen ein damals wie heute nicht selten praktiziertes Verständnis vom Gebet, dass man in die Formel ‚viel hilft viel‘ fassen könnte: wenn man also in immer neuen Anläufen sozusagen auf Gott einredet, Gott bestürmt. Gegen dieses angestrengte Bemühen sagt Jesus den schönen und entlastenden Satz: „euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“ (Matthäus 6, 8b)

Bei Lukas steht das Vaterunser – noch knapper überliefert – außerhalb der Feldrede, seinem kürzeren Pendant zur Bergpredigt bei Matthäus – nach der Geschichte von Maria und Marta und vor der Geschichte vom bittenden Freund. In dieser werden die Worte Jesu überliefert: „wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.“ (Lukas 11, 10)

In unserem Abschnitt aus dem Johannes-Evangeliums (s.o.) klingt das ganz ähnlich (Johannes 16, 23b.24b.): „Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben. … Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei.“

Aber wird das nicht überboten und bald schon überflüssig durch den zitierten Satz in der Bergpredigt direkt vor dem Vaterunser: „euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“ (Matthäus 6, 8b)? Direkt darauf folgt das Vaterunser.

Jesus zeigt, wie die Kommunikation mit Gott geht. Er lehrt es. Es zu lernen ist nicht schwer. Übung braucht man höchstens, um es nicht zu verlernen, vor allem aber weil es eine gute, eine wohltuende Übung ist, das Vaterunser zu beten. Es dient der Sammlung der Gedanken, es konzentriert, es gibt Worte, die uns manchmal fehlen, es ersetzt Worte, die wir nicht finden.

Und es hilft uns aus der Vereinzelung, wenn wir das Vater“unser“ (Mehrzahl!) beten. Jesus richtet unsere Gedanken auf seinen Vater, den auch wir so nennen dürfen. Mit denselben Worten können wir ihn ansprechen – so unterschiedlich unsere Anliegen, Wünsche und Bitten im Einzelnen sind, so unterschiedlich auch die Situationen sind: ein Vaterunser passt immer, und es wird zu jeder Zeit und überall gebetet. Es verbindet uns mit anderen Christenmenschen in der Nähe und in der Ferne. Sie bleiben uns nicht fern. Vaterunser-Beter- und Vaterunser-Beterinnen, ob im Gottesdienst, ob vor einer Autofahrt oder vor einer Klassenarbeit, vor einer Operation oder nach einer Sitzung, ob am Krankenbett, ob am offenen Grab beim Abschied von einem lieben Menschen – sie sind nicht alleine. Jesus leiht, Jesus gibt uns Worte, mit denen wir in Kontakt mit Gott kommen – zunächst alleine oder gleich gemeinsam, einzeln und als Teil der Gemeinde, ja sogar als Teil der weltweiten Christenheit.

„Euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“ Gewiss! Er weiß es sogar besser, sieht weiter, sieht mehr als wir. Der Zweck und das Ziel des Betens ist deshalb auch bestimmt nicht, dass einfach alles so kommen soll, wie wir’s uns denken oder sogar in eigenen Gebeten aussprechen.

Selbst die Bitten des Vaterunsers sind ja längst nicht alle und für jeden Menschen erfüllt. – Aber warum beten wir denn überhaupt?

„Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Johannes 16, 33) Angst ist mehr als Furcht. Angst ist mehr als Furcht, weil sie weniger konkret, weniger greifbar ist. Angst ist unbestimmt. Sie kommt, bleibt, verschwindet, nicht immer mit äußerem Anlass, nicht immer rational fassbar oder begründbar. Sie bedrängt uns. Sie ist nicht leicht in Worte zu fassen und auf den Punkt zu bringen. – „Angst“ ist aber nicht die genaue Übersetzung des griechischen Wortes im Text. Wörtlich heißt es: Bedrückung, Bedrängnis, Trübsal. Was uns einengt, zu schaffen macht, Druck bereitet und eben auch: was uns traurig macht. Aber das Unfassbare, das Ungreifbare, was uns zusetzt, das ist mit Luthers Übersetzung „Angst“ schon sehr treffend ausgedrückt!

Druck, Traurigkeit, Angst: das gibt es in jedem Menschenleben. Das gibt es gerade in diesen Wochen und Monaten zuhauf! Manchmal kann man gut damit umgehen: Es dominiert nicht, und schöne Befindlichkeiten wie Zuversicht, Leichtigkeit, Glück, Fröhlichkeit, guter Mut sind mindestens so stark oder stärker. Manchmal aber sind Druck, Traurigkeit, Angst – und was uns sonst bedrückt und bedrängt und belastet, bleischwer und aus den Gedanken nicht mehr wegzukriegen. Kaum ein Menschenleben, in dem das nicht vorkommt. Und wer ist in diesen Zeiten ganz davon verschont?

„Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst (Bedrängnis, Trübsal, Druck, Traurigkeit); aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Der Zweck, das Ziel des Betens ist demnach: Frieden in Jesus Christus.

Im Gedenken an ihn, mit Jesus Christus in Gedanken, in seinem Namen, mit seinem Gebet sich an Gott wenden, das kann uns ruhig werden lassen, helfen, wieder zu uns selbst zu finden. Der Gedankenkreis wird konzentriert, auf den Punkt gebracht. Auf den Punkt, der außerhalb von uns liegt: auf Gott. Auf den Punkt, den wir auch in uns finden: auf Gott, den uns Jesus nahegebracht hat, Gott, mit dem wir im Heiligen Geist verbunden sind.

Beten schafft unsererseits eine Annäherung an Gott, denn wir erfahren nicht nur Selbstbestätigung, sondern auch Orientierung: Korrektur und Annahme. Beides liebevoll. Damit kann es uns mit der Zeit wohl auch gelingen anzunehmen, zu akzeptieren, womit wir leben müssen. Und wir können Einsicht gewinnen in das, was wir ändern und bessern können, vielleicht sogar müssen.

Im Beten mit Gott können wir unser Leben bejahen und verändern, weil wir es offenlegen vor dem, der es uns gegeben und anvertraut hat, auch und besonders um anderen Menschen wohlzutun und Gott zu ehren.

Deswegen ist Gebet nicht nur Bitte für uns selbst. Nicht mal in der Hauptsache ist es das!

Gebet ist zuerst Dank an Gott, das Gebet preist Gott! Auch Fürbittengebete fangen mit Dank gegen Gott an, loben Gott und wenden sich dann energisch und mit Blick aufs Detail dem Leid, der Not, dem Unglück, aber auch der Freude, dem Erfolg, dem Glück der anderen zu, um dann gerne ins Vaterunser zu münden: unsere Worte fließen in die Worte Jesu, uns von ihm gegeben! Dies alles in dem Wissen und dem Vertrauen, dass andere auch für uns beten. Eben: Fürbittengebete!

So ist es ein bleibender Dienst der Christenheit (wenn nicht sogar aller religiösen Menschen!), füreinander zu beten, also die Verbindung mit Gott stets gemeinsam lebendig zu halten, aber immer auch für die Menschheit als Ganze, für unsere, für Gottes Welt, in die Gott uns gestellt hat, damit wir, wie unsere Kinder, Enkel und Urenkel und deren Nachkommen überall gut auf ihr leben können.

Dafür kann man beten und sich stärken lassen, um gerne und verantwortungsvoll in Gottes, in unserer gemeinsamen Welt zu leben. Amen.

Singen des Wochenpsalms bei YouTube: Psalm 47 (6. Woche der Osterzeit

„Herzliche Einladung zum Mitsingen und Meditieren der Psalmen in der Weise der Responsorialen Psalmodie, des Psalmodierens mit einem Antwortruf. Ein Ruf – ein Herzwort des Psalms – wird immer wieder wiederholt, verinnerlicht, meditiert. Die Psalmen erklingen in der Übersetzung des „Münsterschwarzacher Psalters“. Die „Preisungen – Psalmen mit Antwortrufen“ und „Cantica – Biblische Gesänge mit Antwortrufen“ sind im Vier-Türme-Verlag Münsterschwarzach erschienen (www.vier-tuerme-verlag.de). Das Bild zum Psalmvers „Singt dem HERRN ein neues Lied …“ ist dem „Stuttgarter Psalter“ entnommen, einer Psalterhandschrift vom Anfang des 9. Jahrhunderts, die heute in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart aufbewahrt wird. www.stillezeiten.de “ ( https://www.youtube.com/watch?v=vWMbMasecWY&feature=youtu.be )