Andacht in der besonderen Passionszeit 2020 – von Pfarrer Andreas Strauch
Die erste Woche erheblicher Einschränkungen im persönlichen Miteinander liegt weitgehend hinter uns. Jeden Tag kommen neue Nachrichten über uns, die meisten sehr beunruhigend, etliche auch tröstend und ermutigend, und gleichzeitig richten wir uns in unserem kleinen Kosmos zuhause ein – mit vielen guten Gedanken an Menschen, die wir jetzt nicht treffen, nicht sehen, nicht von Angesicht zu Angesicht erleben können – und mit bangen Gedanken an Menschen, um die wir uns sorgen. Wegen der aktuellen Bedrohung oder aus anderen Gründen. Es sind und werden ja auch sonst Menschen krank oder schwerkrank. Auch in diesen Tagen! Wir denken an Menschen und können sie nicht sehen, jedenfalls nicht persönlich. Wir können sie nicht treffen, nicht besuchen, nicht empfangen.
Es bleiben aber die anderen Möglichkeiten, die jetzt eine ganz neue Bedeutung und Wertschätzung erfahren: Telefonieren, da hört man sich jedenfalls, Video-Treffen oder Skypen, da sieht man sich sogar auch noch, und das gute alte Schreiben: nicht nur Kurznachrichten, sondern auch Längeres: per E-Mail oder per Brief. Auch beim Schreiben ist man sich nahe, weil man intensiv aneinander denkt, in einen Dialog eintritt und ihn führt, weil Raum und Zeit für die eigenen Gedanken an den anderen Menschen eröffnet werden.
Jemand sagte mir diese Woche: „Man lernt sich selbst jetzt ganz neu kennen.“ Dies kann ja durchaus eine Chance sein. Wie man sich wiederfindet im Leben, in der vorhandenen Zeit, der Zeit, die uns immer gegeben ist, die wir jetzt aber möglicherweise um einiges bewusster wahrnehmen, weil sie neu und anders, als wir es gewohnt sind, gefüllt werden will und muss, gefüllt werden darf und kann.
Diese Zeit jetzt ist Passionszeit. Zeit des Erleidens. Zeit, die nicht nur aktiv gestaltet wird, sondern in die wir gestellt sind und die etwas mit uns macht. Die etwas an uns geschehen lässt.
Die zweite Hälfte der Passionszeit hat begonnen, letzten Sonntag, am 22. März. Da war der vierte Sonntag der Passionszeit, der vierte von sechs Sonntagen: Der vierte Sonntag heißt Lätare (deutsch in etwa: Freut euch) und ist seit alters her eine Aufhellung in der Passionszeit. Gelegentlich wird er „Klein-Ostern“ genannt. Er hält eine wichtige Erinnerung wach: Die Passion ist nicht das Ende, sondern sie führt zu Ostern. Der Tod ist nicht das Ende, er führt zum Leben. Aber wo entsteht Leben aus dem Tod?
Wir leben, auch jetzt, Gott sei Dank, aber wir nehmen wahr, wie so Vieles um uns wenn auch nicht erstarrt, so aber doch zum Erliegen kommt. Und wir hören vom Tod. Immer wieder und immer mehr. Tag für Tag. Und wollen retten, was zu retten ist, Aufhalten, Verlangsamen, Durchbrechen, Aushalten. Und Hoffen. Wir wollen leben, wir wollen Leben retten.
Der Wochenspruch der nun zu Ende gehenden Woche, der Woche, die mit dem Sonntag Lätare begonnen hat, handelt vom sterbenden und Frucht bringenden Weizenkorn: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. (Johannes 12, 24)
Das Wochenlied zu „Klein-Osten“ nimmt dieses Bild aus dem Wochenspruch auf. In unserer hessen-nassauischen Ausgabe des Evangelischen Gesangbuches ist es als letztes der Passionslieder (Nummer 98) abgedruckt. Es markiert den Übergang. Direkt gegenüber findet sich schon das erste Osterlied.
Es ist ein schönes, eindrückliches Lied, das wir in unseren Gottesdiensten oft und gerne singen. Melodie, Sprache, Bilder gehen unmittelbar ein. Nehmen Sie sich ruhig mal das Gesangbuch zur Hand, schlagen das Lied auf, lesen, meditieren den Text, und lesen und summen Sie die Melodie. Oder Sie trauen sich, es für sich alleine zu singen.
„Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt,/ Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt -“, so beginnt die erste Strophe. Aus dem sterbenden Korn erwächst der Keim. Er dringt hervor in den Morgen: Zeit des Erwachens, in der sich Leben neu regt, Zeit des Aufstehens, Zeit der Auferstehung. Am Morgen, dem Übergang von der Nacht zum Tag, liegt noch alles vor uns. Der Übergang schenkt den Neuanfang.
Was aber stirbt eigentlich gerade in uns und um uns ab? Ich meine uns, die wir jetzt leben, aber anders als noch vor Kurzem. Das normale alltäglich soziale Leben, es stirbt nicht ab, aber so mag es uns bisweilen schon vorkommen: Schulen und Kindergärten weitgehend geschlossen, nun schon seit die zweite Woche – weitere folgen-, dazu viele Büros, Dienststellen, Abteilungen. Die Straßen: nicht leer, aber ruhig. Auch die Innenstadt. Es fehlen selbst die Gottesdienste. Die Glocken rufen nicht mehr zum Gottesdienst in die Kirchen, lediglich zum persönlichen oder gemeinsamen, verbindenden Gebet in den Häusern.
Was kann und darf in uns absterben, von uns abfallen, jetzt da so vieles anders geworden ist: Das mag man prüfen und bedenken: So beginnt nämlich die dritte Strophe: „Im Gestein verloren Gottes Samenkorn,/ unser Herz gefangen in Gestrüpp und Dorn – …“
Worin sind wir gefangen, wovon also könnten wir befreit werden? Sind es vielleicht die unsichtbaren Scheuklappen, mit denen wir zeit- und streckenweise durchs Leben laufen, rennen, hetzen? Ist es vielleicht das Kreisen um sich selbst und die kleine eigene Welt, das eigene Wohl und Vorankommen? Die eigene Geschäftigkeit und Routine, die uns immer nach vorne, aber manchmal kaum links und rechts neben uns blicken lässt, auf andere Menschen, die auch da sind, die uns brauchen, die uns auch helfen können und weiterblicken lassen, den eigenen Horizont erweitern. Oder übersehen wir noch mehr? In der sonst vielfach gängigen eigenen Geschäftigkeit und Routine geraten am Ende nicht nur andere Menschen aus dem Blickfeld, sondern wir übersehen und verlieren womöglich auch uns selbst. Laufen weg vor uns und von uns selbst.
Das geht jetzt nicht mehr so leicht. Wie gesagt: „Man lernt sich selbst jetzt ganz neu kennen.“ Ist auf sich selbst geworfen, sich sogar ausgeliefert. Merkt, ob man mit sich selbst klarkommt oder diese Begegnung unangenehm ist. Ob man gut zu sich selbst ist und sein kann. Das ist ja überhaupt erst die Voraussetzung, um offen für andere Menschen zu sein, zu werden, zu bleiben. Da kann jetzt was entstehen, langsam, kaum merklich, eben: keimen. Man lernt sich jetzt auch gegenseitig ganz neu kennen. Die Menschen, mit denen wir zusammenleben, und auch die Menschen, an die wir denken und mit denen wir regelmäßig Kontakt pflegen oder den Kontakt jetzt bewusst suchen und pflegen. Was wir an ihnen haben, merken wir besonders deutlich jetzt, wo sie uns fehlen – oder jetzt Zeit und Offenheit gewonnen haben, wieder mehr an sie zu denken.
Neues gewinnt Raum und kann eintreten.
„Liebe lebt auf, die längst erstorben schien“, so geht es weiter in der ersten Strophe. Freunde oder Geschwister haben sich aus den Augen, aber nicht ganz aus den Gedanken verloren, aber es ist doch schon so lange her, dass die Freundschaft, das gute Miteinander mit Leben erfüllt war. Menschen wollten ihr Leben miteinander teilen und merken, dass ihr Leben länger ist als sie zusammen bleiben wollen oder können. Die Kraft, die Ausdauer, die Geduld, die Gemeinsamkeit reichen nicht aus: „Liebe, die längst erstorben schien“… Und dann finden Menschen neu zueinander, denken liebevoll aneinander und lassen es sichtbar und spürbar werden: Sie sehen sich wieder, sprechen wieder miteinander, verstehen einander, verzeihen einander: „Liebe lebt auf“.
Manchmal – nicht immer, man kann es nicht erzwingen, es bleibt Geschenk, es bleibt ein Wunder! -manchmal also finden Menschen nach langer Zeit wieder zusammen. Auch zwischen den Generationen kann das so sein: Eltern waren für ihre Kinder da, als diese klein waren und sie brauchten. Gerade jetzt! Aber auch früher. Auch Jugendliche und (junge) Erwachsene erfahren oft erhebliche Unterstützung durch ihre Eltern. Gerade jetzt! Aber auch früher. Irgendwann leben die Kinder ganz ihr eigenes Leben. Die Entfernung zu den Eltern ist groß geworden, nicht nur räumlich. Vielleicht gibt es alte, tiefsitzende Verletzungen oder Konflikte. Man hatte womöglich nicht den Mut, sie anzusprechen und zu bearbeiten, oder hielt das für aussichtslos. Dann werden die Eltern alt. Da ist die Zeit gekommen, so ist es oft, in der nun die Kinder für ihre Eltern da sind. Manchmal wird in der zu Ende gehenden Lebenszeit der Eltern noch ausgesprochen, worüber man jahrelang nicht reden konnte oder wollte. Manchmal ist das gar nicht mehr nötig, weil sich das Belastende schlicht überlebt hat oder klein und unbedeutend geworden ist. Eltern und Kinder finden neu zueinander. Der bevorstehende Tod schafft erfülltes Leben für beide, Eltern und Kinder: „Liebe lebt auf, die längst erstorben schien“.
An wen denken wir jetzt neu, sorgen uns neu um sie oder ihn? Wen können wir jetzt anders verstehen, besser und gerechter? Und lernen wir, mit anderen und uns selbst einen anderen Umgang, dort wo nötig? Fragen, die sich in diesen Tagen und Wochen dringender stellen und nach einer Antwort verlangen können.
Ich möchte auch und besonders an diejenigen denken, für die diese Passionszeit eine Zeit allerhöchster Anspannung und Aktivität ist: die Menschen, die diese Zeit auch erleiden, aber gleichzeitig kaum noch durch den Tag kommen und Grenzen ihrer Kraft und Belastbarkeit erfahren: die allermeisten von ihnen kennen wir ja gar nicht persönlich, es sind so viele: die Menschen, die in den Krankenhäusern und Altenpflegeheimen Dienst tun für die ihnen anvertrauten Menschen, die bis zum Limit und völligen Erschöpfung arbeiten und doch wissen und sich, so gut wie irgend möglich, darauf vorbereiten, dass es noch mehr und noch härter werden wird: in Italien ganz besonders, aber auch sonst überall auf der Welt. Es sind Menschen, die mit dem Tod leben! Dann denke ich an die Menschen, die unsere tägliche Versorgung aufrecht halten, unter erheblichem Einsatz, unter enormen Mühen und Anstrengungen, z.B. in den Supermärkten. Weiter denke ich an die Menschen, die organisatorisch tätig sind: in den Behörden und Bildungseinrichtungen unseres Landes. Die Menschen, die forschen und beraten: in den einschlägigen Instituten und an den Universitäten. Die Menschen, die Entscheidungen treffen und vertreten, erklären und verantworten müssen: die Menschen in der Politik: auf Kommunal-, Kreis- und Landesebene, im Miteinander der Bundesländer, im Bund, im Miteinander der europäischen Staaten. Die Menschen in den seriösen Medien, die uns zuverlässig, umfassend und ausgewogen informieren.
Alle Strophen des Liedes schließen mit dem Kehrvers: „Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.“ Ein schönes Bild! Farbe ermöglicht Vorstellung. Grün gilt als Farbe der Hoffnung. Hier ist es die Hoffnung, dass aus Lähmung und Erstarrung, aus Furcht und Schrecken, aus Krankheit und Elend, aus Tod und Trauer schließlich Leben erwachsen möge. Sicherlich langsam und zart, aber offen für eine gute und erfüllte Zukunft. Vor dem Kehrvers in der letzten Strophe des Passionsliedes, das vom Tod und von der Liebe singt, findet sich der schlichte und zugleich wichtigste Vers: „hin ging die Nacht, der dritte Tag erschien“. Eine tröstliche Aussicht inmitten jeder Passionszeit!