Liedandacht zum Sonntag Kantate 2020

Von Pfarrer Andreas Strauch

„Sollt ich meinem Gott nicht singen?/ Sollt ich ihm nicht dankbar sein?/
Denn ich seh in allen Dingen,/ wie so gut er’s mit mir mein‘./
Ist doch nichts als lauter Lieben,/ das sein treues Herze regt,/
das ohn Ende hebt und trägt,/ die in seinem Dienst sich üben./
Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“
(EG 325: Strophe 1)

Das ist der Auftakt. Dank an Gott für Gottes Liebe. Das besingt Paul Gerhardt strophenlang. Zwölf Strophen hat das Lied eigentlich, zehn davon sind in unserem Evangelischen Gesangbuch (EG 325) abgedruckt.

Zur Zeit können wir nicht gemeinsam singen. Man kann es aber auch alleine, für sich, so wie es Paul Gerhardt hier auch tut: „Sollt ich meinem Gott nicht singen?“ Man kann für sein eigenes Leben prüfen: „Sollt ich ihm nicht dankbar sein?“ Und man kann in seinem eigenen Leben danach suchen: „Denn ich seh in allen Dingen,/ wie so gut er’s mit mir mein‘.“ Und alleine ist man dabei ja doch nicht. Auch andere werden’s tun. Und unsere Gedanken werden auf Gott gerichtet. Da treffen wir uns, auch wenn wir uns nicht sehen.

Paul Gerhardt hat den dreißigjährigen Krieg miterlebt, ziemlich genau in seinem zweiten, dritten und vierten Lebensjahrzehnt. Eine jahrzehntelange, lebensprägende Katastrophe! Und doch: „Sollt ich meinem Gott nicht singen?/ Sollt ich ihm nicht dankbar sein?“ 1653, fünf Jahre nach dem Ende dieses schrecklichen Krieges, besiegelt durch den Westfälischen Frieden 1648, knapp dreihundert Jahre vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, dichtet er dieses Lied. Die Melodie ist etwas älter und stammt nicht von Paul Gerhardt. Nicht naiv, sondern durchdrungen von Lebens- und Leidenserfahrungen aller Schattierungen kann man das Lied singen und meditieren. ‚In allen Dingen‘ will Paul Gerhardt sehen, ‚wie gut Gott es meint‘. Tatsächlich in allen? In den hellen und dunklen Zeiten eines jeden Lebens, in Glück und Trauer, in Erfolg und Niederlage, in Demütigung und Befreiung – ja selbst in Krieg und Frieden? Offensichtlich will Paul Gerhardt, selbst lebenserfahren und leidesgesättigt, singend und lobend dazu anleiten. Folgen wir ihm auf seinem strophenlangen Weg, schauen wir, jeder/ jede für sich, wie lange und wie weit wir mitgehen können oder wollen. Man kann ja auch zwischendurch stehen bleiben, innehalten und später weitergehen!

Paul Gerhardt gibt den Singenden quasi einen Merkspruch mit, den er Strophe für Strophe, durch alle Höhen und Tiefen hindurch, anwendet und erinnert: kein billiges Sprüchlein, sondern eine Einsicht, die Hoffnung schenken und vor trügerischer Sicherheit bewahren kann: „Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“ Nichts ist sicher, nichts von Dauer – außer Gottes Liebe. Was uns ängstigt, was uns freut, was wir verlieren, was wir gewinnen: „Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“ Dieser Spruch lebt vom häufigen, wiederholten Singen und Meditieren. Wie eine Litanei will er sich eingraben in das Herz und das Gedächtnis der Sängerinnen und Sänger und jedes Menschen, der das Lied liest, nachempfindet und bedenkt. Was Paul Gerhardt erlebt und besingt in den nun noch folgenden neun Strophen, Glaubenserfahrungen, Lebenserfahrungen – es läuft alles und immer wieder darauf hinaus. „Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“ Die Zeit kann man nutzen oder durchstehen, ausfüllen oder aushalten – je nachdem! – sie mündet in Gottes Ewigkeit. Sie ist geprägt von Gottes Liebe – „Lieb“: gesungen auf den höchsten Ton der Melodie dieses Liedes!

Vielleicht fällt Ihnen in diesem Zusammenhang auch der bekannte Abschnitt aus dem Prediger Salomo ein, das dritte Kapitel beginnt mit den Worten „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde“, gefolgt von 28 gegensätzlichen Polen, jeweils gegenübergestellt in 14 Paaren. Da geht es gleich zu Beginn um die existentiellen Ränder des Lebens („Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit“), weiter um elementare Gefühlsäußerungen („weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit“), öfters auch um ganz Alltägliches („suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit“), schließlich wieder um die großen Beziehungsäußerungen und -gegebenheiten im Leben („schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit“). Von Gott sagt der Prediger: „Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.“ (Prediger 3, 11)

Paul Gerhardt geht noch wesentlich weiter als der Prediger Salomo, auch wenn es bei diesem schon angelegt ist. Paul Gerhardt sieht über der zeitlich begrenzten Dauer und Qualität aller Dinge, Begebenheiten, Gegebenheiten des Lebens die ewige Liebe Gottes und fasst dies ausdrücklich in seinen Merkspruch: „Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“ Man kann diese einprägsame Formulierung als eine leicht zu behaltende, Kurzfassung des bekannten Ausspruchs des Apostels Paulus aus dem Römerbrief (Römer 8, 38.39) lesen: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“

Ja, Paul Gerhardt meint, wenn er von Gott singt und schließlich zu Gott singt, den dreieinigen Gott: die Liebe Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Setzen wir uns dem Leben vertrauensvoll aus: unserem zeitlichen Leben, getragen von der ewigen Liebe des dreieinigen Gottes! Folgen wir Paul Gerhardts Erfahrungen und Einsichten, gehen wir dabei an den einzelnen Strophen entlang. – Die Strophen zwei bis vier besingen den dreieinigen Gott:

2. „Wie ein Adler sein Gefieder/ über seine Jungen streckt,/
also hat auch hin und wieder/ mich des Höchsten Arm bedeckt,/
alsobald im Mutterleibe,/ da er mir mein Wesen gab/
und das Leben, das ich hab/ und noch diese Stunde treibe./
Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“

3. „Sein Sohn ist ihm nicht zu teuer,/ nein, er gibt ihn für mich hin,/
dass er mich vom ewgen Feuer/ durch sein teures Blut gewinn./
O du unergründ’ter Brunnen,/ wie will doch mein schwacher Geist,/
ob er sich gleich hoch befleißt,/ deine Tief ergründen können?/
Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“

4. „Seinen Geist, den edlen Führer,/ gibt er mir in seinem Wort,/
dass er werde mein Regierer/ durch die Welt zur Himmelspfort;/
dass er mir mein Herz erfülle/ mit dem hellen Glaubenslicht,/
das des Todes Macht zerbricht/ und die Hölle selbst macht stille./
Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“

Die Strophen zwei bis vier besingen nacheinander Gott als Vater, als Sohn, als Heiligen Geist. Sie sind ein kurzes Glaubensbekenntnis. Das Wesen des christlichen Glaubens wird kurz, bilderreich, eindringlich und persönlich bekannt – wie im Glaubensbekenntnis mit seinen drei Artikeln.
Besungen wird Gott, der Schöpfer, der uns ins Leben ruft und uns schützt und bewahrt.
Besungen wird Gott, der Sohn, der uns solidarisch zur Seite tritt, die Menschen in ihrer Schuld nicht verwirft. Gott der Sohn, der die Tiefe Gottes den Menschen nahebringt, die Unergründlichkeit seines Wesens, die unfassbare Liebe. Keine Tiefe des menschlichen Lebens ist zu tief, als dass Gott nicht dorthin kommen könnte: seien es Einsamkeit, Schmerzen, Krankheit, Angst, Gewissensqualen, der Scherbenhaufen der Lebensbilanz.
Besungen wird schließlich Gott, der Geist: Gott in dem Menschen, Gott, der uns erfüllen und prägen will und in unserem Leben in allen Tiefen stärkt. Hier nennt Paul Gerhardt sogar die Todesmacht und die Hölle. Das ist durchaus nicht nur jenseitig zu verstehen: Todesmacht und Hölle auf Erden waren im dreißigjährigen Krieg real, präsent, sichtbar, greifbar. Sie waren und sind es seitdem immer wieder, z.B. im Zweiten Weltkrieg, der vor 75 Jahren sein Ende fand, und heute im Bürgerkrieg in Syrien. Vielerorts!

Nach jedem der drei Teile des gesungenen Glaubensbekenntnisses über Gottes Schöpferliebe, seiner Solidarität mit den Menschen, seiner Einwohnung bei und in den Menschen, folgt wieder der Merkvers, der alles ins rechte Glaubenslicht setzt und von Gott tragen und aufheben lässt: „Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“ – So lauten die Strophen fünf bis sieben:

5. „Meiner Seele Wohlergehen/ hat er ja recht wohlbedacht;/
will dem Leibe Not entstehen, /nimmt er’s gleichfalls wohl in acht./
Wenn mein Können, mein Vermögen/ nichts vermag, nichts helfen kann,/
kommt mein Gott und hebt mir an/ sein Vermögen beizulegen./
Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“

6. „Himmel, Erd und ihre Heere/ hat er mir zum Dienst bestellt;/
wo ich nur mein Aug hinkehre,/ find ich, was mich nährt und hält:/
Tier und Kräuter und Getreide;/ in den Gründen, in der Höh,/
in den Büschen, in der See,/ überall ist meine Weide./
Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“

7. „Wenn ich schlafe, wacht sein Sorgen/ und ermuntert mein Gemüt,/
dass ich alle liebe Morgen/ schaue neue Lieb und Güt./
Wäre mein Gott nicht gewesen,/ hätte mich sein Angesicht/
nicht geleitet, wär ich nicht/ aus so mancher Angst genesen./
Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“

Diese Strophen fünf bis sieben sind das das freundliche und gut zuredende Herzstück des Liedes. Der Grundton ist hell, der Hintergrund das vorher gesungene Glaubensbekenntnis. Aus ihm folgt ganz offensichtlich und unüberhörbar: Alles ist gut oder wird gut.

Strophe fünf führt schon dahin. Die Stimmung ist aufgehellt: der „Seele Wohlergehen“ ist Gottes Anliegen, die Gefährdung des menschlichen Körpers – durch Krankheit etwa oder Unfall oder Verwundung – wird Gott anvertraut. Die Erfahrung, dass Gott auch in Einschränkungen ungeahnte, unvermutete Kräfte schenken, dazugeben kann, wird besungen. Die Erfahrung, dass es aufwärts gehen kann, man kann sogar sagen: die Erfahrung der Auferstehung im Leben, die Erfahrung der Gnade.

Strophe sechs ist nur licht und schön. Alles ist gut. Die Lebensgrundlagen und Lebensmöglichkeiten des Menschen werden wunderschön beschrieben und anschaulich vor Augen geführt. Man sieht blühende Landschaften vor sich. Überall, „wo ich nur mein Aug hinkehre“. Das Paradies auf Erden? Gottes Schöpferwille ungestört, Gottes Schöpfung unzerstört? Dass der Mensch wesensbedingt zur Grenzüberschreitung und Ausbeutung neigt, ist hier nicht im Blick. Genauso wenig andererseits die prophetische Vision des messianischen Friedensreiches mit Kühen und Bären, die friedlich nebeneinander weiden, mit Löwen, die Stroh fressen – wie die Rinder (Jesaja 11, 6-9). Aber es ist doch ein Augenblick der Vollkommenheit in dieser Strophe festgehalten – der sich gleichwohl nicht festhalten lässt: „Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“ Der erste Teil des Merkspruchs korrigiert jede Naivität, sein zweiter Teil lässt Menschen immer wieder neu anfangen – trotz Sorge und Angst – Tag für Tag.

Anrührend ist das in der siebten Strophe besungen: Der Schlaf, der uns manches vergessen lässt und manches verarbeiten und zurechtrücken hilft – das ist Gottes Sorge für uns. Die neue Zuversicht, die andere Sicht der belastenden Dinge am nächsten Morgen – das ist ein Blick in Gottes freundliches Angesicht! Deswegen ist es so gut, vor schweren und weitreichenden Entscheidungen eine Nacht zu schlafen, die Dinge also zu überschlafen. Und deswegen stimmt es auch immer wieder, wenn man anderen oder sich selbst Mut macht und sagt: „Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.“ Freilich, wir wissen und erfahren: Immer neu bekommen wir Kräfte, aber immer wieder gehen sie uns auch aus, um uns dann wieder neu zuzuwachsen: „Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“ – Die Strophen acht bis zehn bemühen sich um eine umfassende Deutung des Lebens von und vor und mit Gott:

8. „Seine Strafen, seine Schläge,/ ob sie mir gleich bitter seind,/
dennoch, wenn ich’s recht erwäge,/ sind es Zeichen, dass mein Freund,/
der mich liebet, mein gedenke/ und mich von der schnöden Welt,/
die uns hart gefangen hält,/ durch das Kreuze zu ihm lenke./
Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“

9. „Das weiß ich fürwahr und lasse/ mir’s nicht aus dem Sinne gehn:/
Christenkreuz hat seine Maße/ und muss endlich stillestehn./
Wenn der Winter ausgeschneiet,/ tritt der schöne Sommer ein;/
also wird auch nach der Pein,/ wer’s erwarten kann, erfreuet./
Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“

10. „Weil denn weder Ziel noch Ende/ sich in Gottes Liebe find’t,/
ei so heb ich meine Hände/ zu dir, Vater, als dein Kind,/
bitte, wollst mir Gnade geben,/ dich aus aller meiner Macht/
zu umfangen Tag und Nacht/ hier in meinem ganzen Leben,/
bis ich dich nach dieser Zeit/ lob und lieb in Ewigkeit.“

Wovon die achte Strophe so unvermittelt singt, von ‚Strafen‘, ‚Schlägen‘, entstammt einem Gottesbild, das uns sicherlich fremd ist. Leidenserfahrungen als Erziehungsmaßnahme Gottes zu verstehen, halte ich für problematisch, mindestens dann jedenfalls, wenn es generell, pauschal geschieht, sich auf das Leid anderer bezieht und andere Menschen auf diese Deutung festgelegt werden. Damit bemächtigt man sich der anderen Menschen, stellt sich als vermeintlich wissender und urteilsfähiger und -berechtigter Mensch über den anderen oder die andere und verschlimmert deren Leid. Aber auch sich selbst sollte man mit dieser Sicht nicht quälen und niedermachen. Gottes Wille ist uns – wie die Zumutungen unseres Lebens – nie voll einsehbar. Die Auffassung, Leiden, Krankheit, Infektionen als Strafe Gottes zu sehen, ist allerdings immer noch vorhanden. Sie gab und gibt es z.B. in Bezug auf HIV und jetzt auf Corona. Umgekehrt kann und mag es manchmal entlasten, erleichtern, sich angesichts der Anonymität und Sinnlosigkeit der Bedrohung direkt an Gott zu wenden und Gott die Bedrohung ausdrücklich zu klagen, ja Gottes Solidarität, Hilfe, Beistand einzuklagen. Viele Psalmen sind dazu eine gute Sprach- und Gebetshilfe. Immerhin nennt die gleiche Strophe acht Gott ausdrücklich „mein Freund“. ‚Meinem Freund‘, „der mich liebet“, kann und darf ich doch ungefiltert und ungeschminkt alles anvertrauen, was mir auf der Seele liegt! Und mit ihm, bei ihm, vor ihm auch überlegen und bedenken, was ich aus Leiden, Bedrohung, Krise mitnehmen muss, kann, darf, wie ich mit anderen und als Teil der Gesellschaft, der Menschheit, der Kirche, der Gemeinde in der derzeitigen Krise und, wann immer, nach der Krise leben möchte.

Auch wenn Glaube und Jesusnachfolge gewiss Leidensbereitschaft einschließen, ist die Leidensfähigkeit doch nicht unbegrenzt. Es gibt Grenzen des Ertragbaren. In der neunten Strophe wirft Paul Gerhardt einen Blick über unsere Lebensgrenze hinaus. Nicht nur alles „Ding währt seine Zeit“, auch das menschliche Leben. Der Mensch ist zeitlich, Gott ist ewig. Der Mensch findet sein Ziel bei Gott. Die menschliche Zeit fließt und mündet in Gottes Ewigkeit. Da ist dann sogar der erste Teil des Merkspruchs nicht mehr aktuell. Zum Schluss der neunten Strophe heißt es das letzte Mal in diesem Lied „Alles Ding währt seine Zeit,/ Gottes Lieb in Ewigkeit.“

Bleibt die zehnte und letzte Strophe mit ihrem anbetenden Blick zu Gott. Gott wird hier nun erstmalig direkt angeredet. Nach neun Strophen Betrachtung und dankbarem Bekenntnis folgt nun das innige Gebet. Der Dichter ist Beter. Sein Blick richtet sich auf Gottes Ewigkeit. Alle Grenzen und Beschränkungen werden aufgehoben, alles Werden und Vergehen wird zum Ziel finden: die Ewigkeit Gottes. Menschliche Liebe wird sich in Gottes Liebe vollendet finden. Der zweite Teil des Merkspruchs verliert seine Gültigkeit nie und nimmer: „Gottes Lieb in Ewigkeit.“ In sie einzugehen und vorher das begrenzte und geschenkte Leben dankbar wahrzunehmen, Tag für Tag, ist Ausdruck und Ziel christlicher Hoffnung, denn wir haben die schöne Aussicht: „bis ich dich nach dieser Zeit/ lob und lieb in Ewigkeit.“

10. Mai: Gottesdienst am Sonntag Kantate

Link zum You-Tube-Kanal, wo der Gottesdienst am Sonntag ab 10 Uhr aufrufbar ist:

https://www.youtube.com/channel/UCQhVdcgDadwgUd8e99P6RLA

Mitwirkende: Pastor Michael Diehl (Predigt), Pfarrer Ralf Arnd Blecker (Liturgie), Axel Hofeditz (Lesung), Annika Wengenroth (Gebet), Steffen Runzheimer (Musik), Natilla Nersesyan-Hotico (Gesang), Frank Kowalik (Technik).

Der Sonntag im Kirchenjahr: „Kantate – Singt! Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder! … Heute steht die Musik im Mittelpunkt: Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen! … Evangelische Frömmigkeit wäre nicht denkbar ohne sie. Um Musik und Gesang drehen sich die biblischen Lesungen am Sonntag Kantate (Singt!): Der erleichterte Dank der Geretteten, das mächtige Loblied der Geschöpfe Gottes, das besänftigende Harfenspiel und der mutige Gesang, der Kerkermauern sprengt – sie alle vereinen sich zu einem vielstimmigen Lob Gottes. Dort, wo sein Name so besungen wird, dort ist Gott ganz nah. Kein Bereich des Lebens soll von diesem Lob ausgeschlossen sein, keiner ist zu gering für diese Musik. Je mehr unser Leben zum Gesang wird, desto stärker wird uns dieses Lied verändern zu liebevolleren und dankbaren Menschen.“ (https://www.kirchenjahr-evangelisch.de/article.php#871/viewport2 )

Wochenspruch: „Singet dem HERRN ein neues Lied, denn er tut Wunder.“ (Psalm 98,1)

Gedanken zum Dritten Sonntag nach Ostern 2020

Gedanken zum Dritten Sonntag nach Ostern 2020 – von Pfarrer Andreas Strauch

Heute, am 3. Mai 2020, ist der dritte Sonntag nach Ostern – mit dem Namen „Jubilate“ (= „Jubelt“). Er liegt mitten in der österlichen Freudenzeit. Osterfreude kommt natürlich besonders in den Osterliedern zum Ausdruck, zum Klingen. Viele von ihnen sind im beschwingten Dreiertakt komponiert. Viele haben eine aufsteigende Melodieführung, die uns sozusagen mitnimmt in die himmlischen Sphären. Einige aber klingen auch eher herb, für unser heutiges Empfinden jedenfalls – trotz Dreiertakt und trotz aufsteigender Melodieführung. Dies kann dem Umstand geschuldet sein, dass die Osterfreude noch nicht ungebrochen, ungetrübt sein kann. Sie will hervorbrechen aus Tod, Traurigkeit und Trauer, aus Erstarrung, Stillstand, Lähmung und Sorge. Aber sie muss eben auch hervorbrechen, sich manchmal mühsam ihren Weg bahnen. In diesem Jahr 2020 ganz besonders. Keines der Osterlieder haben wir gemeinsam, von der Orgel inspiriert, singen können in unseren Kirchen. Wir konnten dort ja gar nicht Ostern feiern. Dennoch und erst recht: „Jubilate“, jubelt, lobt, preist Gott, lasst der Osterfreude Raum, so gut es eben geht, am besten noch ein bisschen besser.

Nehmen wir dazu eines der beiden Wochenlieder für die Woche ab dem Sonntag „Jubilate“: Ich möchte Ihren Blick, Ihr Ohr, Ihr Herz, am liebsten auch Ihre Stimme, auf das Lied 110 im Evangelischen Gesangbuch (EG) richten. Es zählt nicht zu den bekannten Osterliedern. Mit vielen Osterliedern hat es gemeinsam den Dreiertakt, die schnell aufsteigende Melodie, wenngleich die Höhe nicht gehalten wird und die Melodie die Singenden wieder von der erreichten Höhe in die Niederungen des Lebens führt. Auch in diesem eher herben Osterlied bricht sich der Jubel Bahn. Es ist nicht schwer zu singen und vor allem auch nicht schwer zu verstehen. Ich mag es sehr, finde es wunderschön: kurz und schlicht, leicht und eingängig. Und es hat eine Besonderheit gegenüber allen anderen Osterliedern unseres Gesangbuches, ein Alleinstellungsmerkmal, etwas Unverwechselbares!

Es entstand im Jahre 1623 und stammt von dem bedeutenden katholischen Lieddichter Friedrich Spee. Er ist einer der wenigen katholischen Dichter, dessen Texte sich in bekannten Liedern in unserem Evangelischen Gesangbuch finden, so stammt das Adventslied „O Heiland, reiß die Himmel auf“ (EG 7) größtenteils aus seiner Feder und komplett das Weihnachtslied „Zu Bethlehem geboren“ (EG 32), schließlich auch die erste Strophe der Passionsliedes „O Traurigkeit, o Herzeleid!“ (EG 80). Friedrich Spee stellte sich mutig gegen Hexenverfolgungen und Hexenprozesse, die es in jener Zeit durchaus noch gab. Das war sein Kampf für das Leben gegen den Tod. – Nun also zu seinem Osterlied, das seinen anderen Liedern in unserem Gesangbuch – wie auch vielen anderen Osterliedern unseres Gesangbuches – gegenüber an Bekanntheit zurücksteht. Die besondere Wertschätzung als Wochenlied des Sonntages „Jubilate“ erfährt es übrigens erst seit Neustem.

„Die ganze Welt, Herr Jesu Christ,/ Halleluja, Halleluja,/ in deiner Urständ (=Auferstehung) fröhlich ist. / Halleluja, Halleluja.“ (Str. 1 und 6) Alle sechs Strophen bestehen aus diesem Wechsel von Text- und Halleluja-Zeilen. Man kann sich eine Prozession zum Auferstehungswunder vorstellen: Der Vorsänger oder die Vorsängerin singt die Textzeile, das Volk, die Gemeinde, eine große oder eine kleine Ansammlung von Menschen antwortet mit den doppelten Halleluja-Rufen.

Die Rahmenstrophen besingen den unendlichen Klangraum des Osterjubels: die ganze Welt. Auferstehungshoffnung, Osterfreude erfüllen die Schöpfung. Nicht alle können zu jeder Zeit mitsingen und mitjubeln. Dieses Jahr ist es sicherlich für viel mehr Menschen als sonst schwierig. Osterfreude kann auch stellvertretend zum Klingen gebracht werden: von denen, die es gerade (noch oder wieder) können, für diejenigen, die es (zurzeit) nicht können. Die Welt freut sich nämlich nicht über die Auferstehung, sondern – feiner Unterschied! – in ihr. Was mit Ostern geschehen ist, ist präsent und wirkt, umfasst und durchdringt das Leben – auch angesichts von Sterben, Tod und Trauer und alldem, was uns einzwängt und niederhält. Dies singend zuversichtlich zu bekennen, ist Gebet („in deiner Urständ“).

Christi Auferstehung lenkt unseren Blick, besser: unser Ohr, nach oben. „Das himmlisch Heer im Himmel singt“; „die Christenheit auf Erden klingt.“ (Str. 2) Ihren Höhepunkt erreicht die Melodie im „Himmel“, bevor sie wieder an Höhe verliert und „auf Erden“ ankommt. Auferstehungsglaube und Osterjubel führen uns über uns selbst hinaus. Die Musik nimmt uns mit in Sphären, die uns ohne sie unzugänglich blieben. Die Welt voll Gesang, voll Musik: Der himmlische Gesang klingt und hallt wider im Gesang, in der Musik der Menschen, der christlichen Gemeinde.

Auf der Erde angekommen, zeigt das Lied hier nun Bilder für die Auferstehung – anrührend schlicht. Das Wiedererwachen der Natur ist Gleichnis für die Auferstehung. Als einziges Osterlied unseres Gesangbuches wagt das Lied 110 diese Anschauung. Ohne jede Erklärung. Inmitten des Osterjubels besingt es einfach den Frühling – und die Frühlingsmusik der Kreatur. „Jetzt grünet, was nur grünen kann“; „die Bäum zu blühen fangen an.“ – „Es singen jetzt die Vögel all“; „jetzt singt und klingt die Nachtigall.“ (Str. 3 und 4) Vor einigen Jahr konnte man an verschneiten Ostertagen die Vögel über den schneebedeckten Wiesen singen hören. Aus dem Schnee ragten grüne Halme. Osterbilder, Ostermusik vor der Haustür! In diesen Tagen des Jahres 2020 singen die Vögel – oder kommt es mir nur so vor? – besonders laut. Ich freue mich daran und frage mich so manches Mal, staunend, nicht ohne die Antwort ja doch zu wissen: Die Vögel singen so laut, so schön, so anhaltend – wissen die denn gar nicht, was die Menschen auf der ganzen Welt derzeit so quält und niederdrückt? Aber die Vögel singen – wieder und weiter, vielleicht extra besonders schön in diesem Jahr!? Auch in diesem Jahr 2020 war Ostern, ist Ostern, bleibt Ostern wirksam und gibt es die österliche Freudenzeit.

Hier eine kleine Nebenbemerkung: Im Vorgängergesangbuch zu unserem jetzigen fand sich dieses Lied in der Rubrik „Jahreszeiten“, es wurde dort offensichtlich als reines Frühlingslied verstanden. Zwar wurden immer wieder Ostern und das Aufblühen der Natur miteinander in Verbindung gebracht. Aber die allermeisten unserer Osterlieder haben eine Scheu davor. Schien ihnen diese Form der Osteranschauung doch zu schlicht, dass sie sich nicht trauten, sie in Worte zu fassen? Und ist es umgekehrt nicht eine Überhöhung der Naturschönheit, wenn man sie mit dem Auferstehungsgeschehen in Verbindung bringt? Und tatsächlich: Unser Lied spricht ja auch nur unauffällig, quasi nebenbei, aber eben doch unüberhörbar und an herausgehobener Stelle, von der Auferstehung: Nur in den Rahmenstrophen – diese aber umschließen das ganze Lied: setzen schon am Anfang den entscheidenden Akzent und bestätigen diesen abschließend noch einmal – am Anfang und am Ende des Liedes also kommt das Wort nun doch ausdrücklich vor (in seiner altertümlichen Fassung: „Urständ“). Nur: Ist Ostern ein weltumfassendes Geschehen, betrifft Ostern die ganze Schöpfung: Himmel und Erde, Menschen, Tiere, Pflanzen, dann ist es ja gut und schön, passend und angemessen, legitim und sachgerecht, dies auch konkret – wie in diesem Lied eben – zu besingen: Osterfreude und Frühlingsfreude passen zusammen und fallen in diesem Lied zusammen. Der Frühling steht für erwachendes Leben, er lässt den Winter, der für Erstarrung, ja Lebensbedrohung steht, hinter sich. Wenn es Schnee gab, wird ihn irgendwann unweigerlich die Sonne zum Schmelzen und Verschwinden bringen. Die Naturphänomene werden ganz selbstverständlich und selbsterklärend, ohne jeden begrifflichen Aufwand, auf Ostern hin gedeutet.

So besingt das Osterlied das österliche Licht. „Der Sonnenschein jetzt kommt herein“; „und gibt der Welt ein‘ neuen Schein.“ (Str. 5) Das klingt ja kaum anders als wie im bekannten Weihnachtslied „Gelobet seist du Jesu Christ“ (EG 23), dessen Text größtenteils vom Reformator Martin Luther stammt. Die vierte Strophe dort beginnt ganz ähnlich: „Das ewig Licht geht da herein,/ gibt der Welt ein‘ neuen Schein“. Der Sonnenschein des Frühlings weist in unserem Osterlied – in unausgesprochener ökumenischer Einigkeit – symbolisch hin auf Jesus Christus, das „ewig Licht“ (Weihnachtslied), der von sich sagt (Johannes 8, 12): „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Ein Satz, der unser Leben hell macht und zugleich über unser irdisches Leben hinausweist und aus Gottes Ewigkeit leuchtet.

Christen mögen auch in der Frühlingssonne Gottes Lebenswillen erkennen. Sie bescheint die erwachende Natur. Die grünende Pflanze streckt sich nach ihrem Licht. Ostern geschah „am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging.“ (Markus 16, 2) Jeder Sonntag ist ein kleines Osterfest. Leben in der Auferstehungshoffnung, erfüllt von Osterfreude, richtet sich jubelnd, singend und betend auf Gott: „Die ganze Welt, Herr Jesu Christ,/ Halleluja, Halleluja,/ in deiner Urständ fröhlich ist. / Halleluja, Halleluja.“

Lesepredigt zum Ersten Sonntag nach Ostern 2020

Lesepredigt zum Ersten Sonntag nach Ostern 2020 – von Pfarrer Andreas Strauch

Predigttext für den zum Ersten Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti) 2020: Jesaja 40, 26-31:
26 Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.
27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«?
28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich.
29 Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.
30 Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen;
31 aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

Liebe Gemeinde, ‚Lass den Kopf nicht hängen‘ oder ‚Kopf hoch!‘ sagen wir uns gerne, um uns gegenseitig Mut zu machen. Wieviel schöner noch klingt es hier: „Hebt eure Augen in die Höhe und seht!“ Um den Mut nicht zu verlieren oder um neuen Mut zu schöpfen, wird empfohlen und ermutigt zu schauen. Wenn man sich umsieht, nimmt man schon mehr wahr, als sich momentan im eigenen Kopf abspielt. Das Kreisen der Gedanken wird unterbrochen. Hier lesen wir die Empfehlung, hoch zu schauen, „in die Höhe“, und Klarheit zu gewinnen über die Frage, deren Antwort ja gleich mitschwingt: „Wer hat all dies geschaffen?“

Nun, was gibt’s denn zu sehen ‚in der Höhe‘? Probieren Sie’s einfach aus von Ihrem Fenster, Balkon, Garten.

Ich sehe bewaldete Berghänge, ergrünende Laubbäume, die Fichten sind ja immergrün (wenn sie die letzten beiden Sommer überlebt haben), ich sehe auch etliche blühende Bäume in herrlichem weiß. Ich sehe Vögel: Amseln, Tauben, Meisen, auch Enten, wie sie flattern, fliegen, gleiten. Ich sehe Wolken, weiße und graue, und blaue Stellen am Himmel, gelegentlich scheint die Sonne durch. Das ist der Blick, den ich heute, am Samstagnachmittag, von zuhause aus sehen und genießen kann. Spät abends konnte man an den letzten Tagen bei klarer Sicht auch einen herrlichen Sternenhimmel sehen. Dies alles im Blick relativiert sich die eigene Befindlichkeit doch!

„Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen?“ Der Blick in die Höhe lehrt uns, lehrt jeden einzelnen Menschen, sich als Teil des Ganzen zu sehen. Nicht weniger, nicht mehr. Dies kann trösten und stärken oder aber beunruhigen. Kann man denn in diesem Ganzen seinen Platz behaupten oder droht man unterzugehen?

Man kann ja auch unter sich schauen. Z.B. beim Spaziergang durch den Wald. Da sieht man zahllose Ameisen krabbeln und derzeit auch unüberschaubar viele ganz kleine Blümchen mit weißen Blüten. Es ist praktisch unmöglich, auf dem Weg um die Ameisen und Blumen herum zu gehen.

Wird man überhaupt wahrgenommen, ernstgenommen, beschützt als Teil des Ganzen im Ganzen? Das können sich einzelne Menschen, Familien, Gruppen in der Gesellschaft, ja sogar ganze Völker fragen, die sich verloren vorkommen, übersehen, überrannt, benachteiligt, der Möglichkeiten beraubt, in Recht und Würde leben zu können. Ihr klagender, verzweifelter Hilferuf kann lauten wie damals zur Zeit des Propheten: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«. Werden sie wahrgenommen in ihrem Leid und Elend?

– Das können Menschen in Pflegeheimen sein, die nach bestem Wissen und Gewissen und Können und in aller gebotenen Vorsicht und Umsicht versorgt und geschützt, begleitet und ermutigt werden, die aber unter der Einsamkeit leiden, da derzeit niemand von den Angehörigen zu Besuch kommen darf.
– Das können Kinder sein, die derzeit schon seit Wochen vorwiegend zuhause sind, nicht im Freien mit Freundinnen und Freunden spielen und toben können, sondern vielleicht sogar in engen Wohnverhältnissen ausharren müssen, vielleicht auch gestresste Eltern erleben, denen die Enge auch Probleme macht und die in ihr auch noch im Homeoffice arbeiten müssen und sich Sorgen um die Zukunft machen. Etliche Kinder erleiden zudem derzeit auch Aggressionen, Gewalt, Missbrauch. Sie brauchen dringend Hilfe von außen.
– Das können Menschen mit seltenen Krankheiten sein, für die eine Entwicklung von Medikamenten aus Sicht der Pharmaindustrie ökonomisch nicht rentabel erscheint.
– Das können geflohene Menschen sein, die in Booten auf dem Meer umhertreiben und in ihre Heimatländer zurückgeschickt oder in Europa nur widerwillig und nach unwürdigem Ringen an Land gelassen und vielleicht nach langer Zeit irgendwann auf einzelne Länder in Europa verteilt werden – oder auch nicht. Die dann wie so viele ihrer Leidensgenossinnen und Leidensgenossen in Lagern festsitzen, deren hygienische Bedingungen und allgemeine Gegebenheiten jeder Menschlichkeit und speziell auch jeder derzeit gebotenen Vorsicht spotten.
– Das können indigene Völker sein, in Brasilien etwa oder in Australien, deren Rechte permanent bedroht sind und für die sich einzusetzen allgemein offensichtlich nicht lohnend erscheint.
– Das können Menschen sein, die schwere Krankheitsverläufe aufgrund des neuen Virus erleiden, deren Angehörige wie sie selbst in Sorgen und Ängsten sich verzehren, ohne dass sie sich gegenseitig sehen können, genauso wie die Ärztinnen und Pfleger, die tagtäglich ihr bestes geben und nicht wissen, was noch alles auf sie zukommt an Arbeit, Verantwortung oder sogar eigener Erkrankung.

Ihr aller Hilferuf und der Hilferuf vieler mehr ist in unserem prophetischen Text in Worte gefasst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«. Der Prophet zitiert ihn als den Verzweiflungsruf Israels im Exil, das dort verbannt und festgesetzt, seiner Heimat beraubt ist und in seiner Identität gefährdet.

Der Prophet nimmt die Verzweiflung wahr und setzt ihr entgegen: „Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich.“

Ist das schon eine Hilfe, ein wirksamer Trost, eine tragfähige Ermutigung? Jedenfalls erinnert der Prophet die Menschen damals wie heute daran und macht es ihnen, uns neu bewusst: Als Teil des Ganzen überblicken wir nicht alles. Können es nicht und brauchen es nicht. Der Schöpfer des Ganzen steht dahinter, für uns nicht vollständig zu verstehen, zu begreifen, zu durchschauen, zu überblicken, zu erfassen, zu erforschen, zu durchdringen, zu entschlüsseln. Der Schöpfer des Ganzen steht dahinter: kraftvoll! Das ist wichtig, darauf kommt es an: dass wir Lebenskraft bekommen. Von Gott, der selbst „nicht müde noch matt“ wird.

Denn das Empfinden, verlorenzugehen, übersehen, nicht gewürdigt, nicht geachtet, übergangen und ausgeschlossen zu werden, nicht zu seinem Recht zu kommen und keine Perspektiven, keinen Weg vor sich zu sehen, dieses Befinden nimmt die Lebenskraft und den Lebensmut weg. Es führt zu Müdigkeit, Erschlaffung, Resignation, Depression. Auch Menschen, denen ihr Glaube wichtig ist und die sich von ihm tragen lassen, kennen das. Gegen solche Müdigkeit ist nicht immer leicht anzugehen. Sie kann bleischwer sein und nach unten ziehen. Dann ist auch alles schwer. Man muss sich dann zu allem aufraffen. Und auch das ist schwer.

Gott verurteilt die Müdigkeit nicht. Im Psalm 127 heißt es so schön (V.2): „Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen; denn seinen Freunden gibt er es im Schlaf.“ Eine Ermutigung zur Gelassenheit, eine Würdigung der Müdigkeit, der nachgegeben werden darf durch erholsamen Schlaf.

„Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.“ Müdigkeit darf sein, muss bald sein, damit sich Neues aufbauen kann, damit wir offen werden, um neue Kraft zu empfangen.

Das Wunder der Schöpfung Gottes, von der kleinen weißen Blume oder der Ameise auf dem Wege bis hin zu den fernen Sternen und Galaxien, das Wunder jeden Lebens, des Lebens von Pflanzen, von Tieren, von Menschen, das Wunder der Schöpfung Gottes ist, dass sie durchdrungen ist von Gottes Lebenskraft, von göttlichem Atem, vom Heiligen Geist. Das ist unsere Kraftquelle. Das sind Wunder des Schöpfergottes, wenn Menschen aus ihrer Müdigkeit, Resignation, Depression, Verzweiflung, Mutlosigkeit heraus wieder neue Kraft bekommen und Lebensmut spüren.

„Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen“ – gerade Menschen, die als Sinnbild für Kraft, Unverwüstlichkeit, Unverwundbarkeit stehen, sind gemeint und angesprochen. Menschen im Vollbesitz ihrer Kräfte, das können Frauen wie Männer sein, Menschen, die im Vollbesitz ihrer Kräfte viel leisen und leisten müssen, Verantwortung übernommen haben und deswegen ohnehin – und viel mehr noch in unsicheren Zeiten bei unsicheren Aussichten – erheblich unter Druck stehen. Sie sind stark und können schwach werden, können verletzt und krank werden, finanziell, wirtschaftlich ins Schlingern geraten, und sie wissen es und sehen es bei anderen und befürchten es für sich selbst. Was soll werden?

Es folgt die wunderschöne, beschwingende Aussicht, die von solchen oder vergleichbaren Sorgen, Befürchtungen, Ängsten ausgeht und sich von diesen bewusst abhebt – als Gegenaussicht, deshalb beginnt sie auch mit dem Wort „aber“: „aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“

Kraft und Schwung, Glaube und Hoffnung, Vertrauen und Zuversicht können wir nicht herbeizaubern.

Das Wunder der Schöpferkraft Gottes spüren wir in uns, wenn wir neue Kraft in uns wahrnehmen, die uns beschwingt. Offenheit statt Verschlossenheit, Geduld statt Aufgabe, Ausharren statt Erzwingen – das kann man dafür aufbringen, um solchen Zugewinn von Kraft und Lebensenergie geschehen zu lassen – und auch wahrzunehmen und schließlich zu nutzen.

Der Blick in die Höhe kann sicherlich helfen, weil er die Gedanken zurechtrückt und uns die Erinnerung an Gottes Schöpferkraft stärken kann. Wir dürfen uns als Teil der ganzen Schöpfung Gottes verstehen und gleichzeitig als ein ganzes Schöpfungswerk Gottes von vielen, unzähligen: von Gott wahrgenommen, gewürdigt, gesegnet und geliebt: „Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.“ Auf diesem einen Schöpfungswerk Gottes, auf Dir und auf mir, wie auf allen, wirklich jedem einzelnen Schöpfungswerk, ruht Gottes Segen, diesem einen wie allen gilt Gottes ganze Liebe. Mit solcher Glaubenshaltung und Lebenseinstellung können wir, kann jeder Mensch offen und empfänglich werden und bleiben, um von Gott „neue Kraft“ zu bekommen, neuen Schwung – und neu beflügelt zu werden.

Der Flug des Adlers ist schwungvoll, erhaben, edel. Seit alters her ist der Adler Symbol für die Auferstehung, Gottes Lebenskraft, die aus Tod und Erstarrung, aus Trauer und Aussichtslosigkeit erwachsen und erblühen kann.

Wir brauchen Gottes Lebenskraft, jetzt, da viele Menschen bis zur völligen Erschöpfung arbeiten müssen und viele andere sich zu weitgehendem Stillstand genötigt sehen und dabei feststellen, dass auch dies Kraft kostet und erfordert. Jede Hilfe, die geleistet werden kann, lohnt, da sie andere Menschen stärkt.

So lässt sich dieser prophetische Ausspruch durchaus auch für Christenmenschen heutzutage als in Bildsprache gefasster und auf solche Weise anschaulich ausgedrückter Osterglaube lesen: „aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“

Mögen wir dies, wenn nicht schon jetzt, dann aber doch in absehbarer Zeit erneut am eigenen Leibe, im eigenen Leben erfahren. Amen.

Gedanken zu Ostern 2020

Gedanken zu Ostern 2020 – von Pfarrer Andreas Strauch

Das Osterevangelium nach dem Evangelisten Matthäus (Kapitel 28, nach Lutherbibel 2017)):
1 „Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria Magdalena und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen.
2 Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf.
3 Seine Erscheinung war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee.
4 Die Wachen aber erbebten aus Furcht vor ihm und wurden, als wären sie tot.
5 Aber der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht.
6 Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt und seht die Stätte, wo er gelegen hat;
7 und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern: Er ist auferstanden von den Toten. Und siehe, er geht vor euch hin nach Galiläa; da werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt.
8 Und sie gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkündigen.
9 Und siehe, da begegnete ihnen Jesus und sprach: Seid gegrüßt! Und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder.
10 Da sprach Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen: Dort werden sie mich sehen.“

Hätten wir auch in diesem Jahr die Möglichkeit, in unseren Kirchen miteinander Ostergottesdienste zu feiern, so hätten wir uns wieder begrüßt mit den Worten: ‚Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden.‘ Und hätten damit unseren Glauben und unsere Hoffnung bekannt: Das Leben ist stärker als der Tod. Gott hat den Tod besiegt. Gott besiegt den Tod.

Dies ist und bleibt, wie uns nicht erst in diesem Jahr deutlich ist, Glaube und Hoffnung wider den Augenschein. Dieses Bekenntnis widerspricht dem, was Menschen sehen, erfahren, erleiden.

Dagegen bekennt der Glaube: Die Osterbotschaft ist die Wahrheit unseres Lebens.

Freilich ist sie eine geheimnisvolle Wahrheit.

Wissenschaft, menschliche Vernunft, menschlicher Verstand können dieses Geheimnis nicht lüften. Nicht beweisen, nicht widerlegen.

Österlicher Glaube bleibt nicht im Innerweltlichen verhaftet, sondern er nimmt – erneut, wie schon zu Weihnachten! – den Einbruch des Göttlichen in unsere Welt wahr.

„Jesus lebt“ – das ist nicht nur die Botschaft von Weihnachten, wo wir den Beginn des göttlich-menschlichen Lebens feiern.

„Jesus lebt“ – das ist vor allem die Osterbotschaft. Gott, der Mensch geworden war (Weihnachten), der wie jeder Mensch sterben musste und wie viele Menschen durch Unrecht und Gewalt sterben musste (Karfreitag), Gott hat sich erneut zu diesem göttlichen menschlichen Leben bekannt, zu Jesus, der sein Leben so völlig und vorbehaltlos – voller Liebe und Vertrauen – Gott und den Menschen gewidmet hatte, dass sich dieses menschliche Leben eben schon in seinem Leben und Leiden, seiner Hingabe und seinem Sterben als göttlich erwiesen hatte.

Österlicher Glaube trägt die Verheißung in sich, dass er eine Verbindung zu dem Auferstandenen schafft und erhält.

Aber auch der Glaube kann dieses Geheimnis nicht lüften, nicht beweisen, nicht widerlegen! Das letztere will er gewiss auch nicht, das erste und das zweite sollte der Glaube auch nicht wollen! Das ist nicht sein Werk und nicht sein Wesen.

Der Glaube kann teilhaben an dem Geheimnis der österlichen Wahrheit unseres Lebens. Sich hineinversenken. Spuren, Lebensspuren im menschlichen Leben, in der Welt suchen, entdecken, setzen: in unserer heutigen Welt, in der wir Tag für Tag von der Wirklichkeit des Todes umgeben, bedrängt, erschreckt, verängstigt werden!

Österlicher Glaube rechnet mit mehr, hofft auf mehr als die Wirklichkeit uns täglich vor Augen führt: Furcht und Schrecken, Not und Tod, Tränen und Trauer.

Österlicher Glaube sieht weiter, sieht dahinter eine andere Wahrheit, die stärker ist und all das, was Menschen in ihrem Leben aushalten müssen, überhaupt tragen lässt.

Österlicher Glaube bleibt nicht stehen vor dem Leid der Welt, er kapituliert nicht vor dem Tod, weil er eine Lebenskraft in sich trägt, die unbesiegbar ist.

Österlicher Glaube weicht dem Tod nicht aus, kennt Trauer und Entsetzen, spürt und erleidet die lebensfeindliche Macht des Todes und vertraut auf Stärkeres, auf das Leben, auf Gott.

Österlicher Glaube erklärt nicht, sichert sich nicht ab, sondern lässt Gottes Kraft mit sich geschehen, in sich wirken.

Österlicher Glaube kann auch die Fragen, die Zweifel, die Verzweiflung Gott anvertrauen und Gott mehr zutrauen als dem eigenen Verstehen und der eigenen Vernunft. –

So haben’s auch die Frauen erlebt. Oder anders und besser: So haben’s auch die Frauen mit sich geschehen lassen.

Vom Osterglauben ist in der Ostererzählung nach Matthäus (s.o.) gar nicht ausdrücklich die Rede.

Wir können an dieser Erzählung aber wunderschön sehen, wie der Osterglaube geschieht, zu wirken beginnt, Zuversicht gibt, Freude weckt, auf den Weg setzt.

Den toten Jesus wollen die Frauen besuchen, nach seinem Grab schauen, an den Ort gehen, wo sie ihm nahe sein und der Trauer und den Schmerzen Raum geben können.

Oft suchen Menschen die Gräber ihrer Lieben auf, um ihnen nahe zu sein, obwohl diese doch nicht mehr da sind. Der Schmerz wird am Grab nicht unbedingt kleiner. Er kann zur Reinigung führen, so wie Tränen die Trauer im guten Sinne befördern, die Versteinerung lösen können.

Matthäus erzählt jetzt – als einziger der vier Evangelisten – von einem Erdbeben, wie übrigens auch schon unmittelbar nach dem Tod Jesu.

Tod und Trauer können erschütternd sein und alles ins Wanken bringen. Tod und Trauer können so stark und übermächtig sein, dass sie das eigene Leben in seinen Grundfesten erschüttern oder gar zum Einsturz bringen können.

Ein Erdbeben hat zerstörerische Macht und lässt nicht allein Häuser einstürzen. Ohnmächtig ist der Mensch, auch heute der hochtechnisierte Mensch den Naturgewalten ausgesetzt. Sie sind stärker, unermesslich viel stärker als alle Menschenmacht und Menschenkraft.

Tod und Trauer können erschüttern. Die welterschütternde Kraft des Erdbebens steht auch hierfür, v.a. aber dafür, dass jetzt eine stärkere, eine unermesslich stärkere Kraft wirkt.

Das Erdbeben kündigt göttliches Handeln, göttliche Erscheinung an – wie auch der Engel, der Gottesbote, die göttliche Lichtgestalt – blendend weiß.

Menschenmacht ist am Ende. Was jetzt geschieht, ist nicht menschengemacht. Menschen können kein Erdbeben auslösen. Menschen können nicht einen Toten zum Leben erwecken.

Gottes Macht ist jetzt am Werk. Sie kann es mit dem Tod aufnehmen. Harmlos ist das nicht.

Der Tod ist stark. Gott ist stärker.

Die Wächter des Todes erschrecken sich fast zu Tode.

Aber nicht nur die Wächter fürchten sich. Auch die Frauen.

Von alleine können sie da nicht heraus. Die Furcht können sie sich nicht selbst nehmen, die Furcht, die jetzt noch zu Schmerz und Trauer hinzugekommen ist.

Das ist jetzt noch nicht der Zeitpunkt für Osterfreude. Nichts erklärt sich hier von selbst!

Deswegen redet der Gottesbote, der Engel jetzt. Er sagt, er übermittelt den Frauen die Osterbotschaft, den göttlichen Sieg des Lebens über den Tod – Schritt für Schritt:

„Fürchtet euch nicht!“ Als erstes erkennt er die Furcht der Frauen – und nimmt sie ihnen. Er schafft Vertrauen. Denn die Furcht ist dem Glauben im Wege.

Der Engel weiß, was die Frauen bewegt und umtreibt, und zeigt und sagt ihnen das:

„Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht.“ Der Engel nennt die Härte des Todes Jesu: wie dieser erniedrigt, entwürdigt wurde – der Kreuzigungstod ist der Tod für Verbrecher, für Unfreie: Mit einer Demütigung sollte Jesus gestorben sein. Das wird die Trauer der Frauen riesengroß gemacht haben. Es war eben kein friedlicher, kein tröstlicher Tod, jedenfalls war ein solcher Tod von Jesu Peinigern so nicht beabsichtigt.

Mit wenigen Worten erweist sich der Engel als jemand, der die Frauen in ihrem Leid versteht. Er steht ihnen bei – nicht mit langen Reden, nicht mit Beschwichtigungen, sondern indem er genau da ist, wo die Frauen sind, und genau das sagt, was ihnen guttut und sie auch weiterführt.

Er weitet ihren Blick. Er führt sie von Furcht zur Freude, zu großer Freude sogar – weiterhin Schritt für Schritt: „Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern: Er ist auferstanden von den Toten. Und siehe, er geht vor euch hin nach Galiläa; da werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt.“

„Er ist nicht hier“ – ohne die Fortsetzung wäre das eine Steigerung des Leides. Mit der Fortsetzung „er ist auferstanden“ wird alles neu und anders für die Frauen. Dabei knüpft der Engel ja sogar an Jesus selbst an: „wie er (Jesus) gesagt hat“. Die Frauen müssen sich nur erinnern.

Und doch – jetzt ist Glauben angesagt: Glaube an Gottes Treue und Verlässlichkeit, Glaube an Gottes Lebenswillen und Lebensmacht.

Die Rede des Engels ist glaubwürdig: Er besiegelt seine Worte feierlich: „Siehe, ich habe es euch gesagt.“ Es ist ja eine Rede Gottes selbst, die er als Gottes Bote glaubwürdig übermittelt hat: eine einfühlsame Rede gegen die Furcht, mit der er die Frauen aus ihrer Welt des Todes und der Trauer herausführt, ihnen neue Ausblicke zeigt und sie auf einen neuen Weg setzt.

Dem Ausblick zu trauen, den Weg zu gehen, das allerdings erfordert tatsächlich Glauben, Vertrauen.

Es gibt keine Absicherung!

Die Frauen sollen den Jüngern die Auferstehung Jesu verkündigen, von der sie selbst gehört haben. Die Frauen sollen ohne Absicherung tätig werden. Das Wort des Engels ist glaubwürdig. Das reicht! Mehr braucht es nicht.

Die Frauen können zuerst verkündigen, weitersagen, was sie gehört haben, bevor sie Jesus selbst zu sehen bekommen werden, dessen Auferstehung sie verkündigen. Der Engel führt die Frauen zu österlichem Glauben – frei von jeder Absicherung, die den Glauben als Glauben ja nur schwächen könnte, nicht stärken, nicht bewähren. Gott ist der glaubwürdige Gott!

So verstehen’s die Frauen. Die Furcht ist nicht weg, sie kann zum Glauben gehören – wie auch die mit der Furcht verwandte Ehrfurcht, der Respekt vor der Erhabenheit und Größe Gottes.

Aber es bleibt jetzt nicht bei der Furcht allein. Ihr gesellt sich jetzt die Freude zu, und die überwiegt: „große Freude“, aber nur: „Furcht“.

Furcht lähmt, Freude setzt in Bewegung.

Der Ort der Frauen ist nun nicht mehr am Grab, dem Ort der Trauer, der Furcht, der Erschütterung.

Es drängt sie, es den Jüngern zu verkündigen – ohne dass sie sich sehend hatten überzeugen können. Die Frauen waren bereit, den Jüngern die Auferstehung Jesu zu verkündigen. Die göttliche Engelrede hatte sie dazu bereitgemacht. Das hatte gereicht. Nach mehr, nach sichtbarer Beglaubigung hatten sie nicht verlangt.

Was ihnen nicht notwendig war, durften die Frauen jetzt erleben, jetzt wirklich sehen: Jesus selbst.

Er, der Auferstandene, begegnete ihnen und grüßte sie.

Matthäus erzählt, wie das die Frauen bewegt: „Und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder.“ Gesten des Vertrauens, der Zuneigung, der Ehrfurcht. Gesten nicht nur des Respekts, sondern auch der Liebe!

Ihre bis jetzt gebliebene, mitlaufende Furcht erkennt Jesus. Er nimmt sie ihnen. Ein zweites Mal hören die Frauen: „Fürchtet euch nicht!“

Und nun erhalten die Frauen von Jesus selbst den Auftrag, es den Jüngern zu verkündigen. „Brüder“ nennt er diese.

Der Engel hatte den Glauben der Frauen geweckt. Ihre Erstarrung hatte sich gelöst, sie hatten sich in Bewegung gesetzt – und sind Jesus selbst begegnet.

Mit wenigen Worten zeichnet Matthäus eine innige, liebevolle Begegnung nach.

Das Ostergeschehen hat Glauben freigesetzt. Niemand muss dem folgen. Es ist nicht zwingend. Glaube und Vertrauen können das nicht sein. Aber sie sind heilsam, lebensfördernd!

Und wenn Menschen von ihnen ergriffen sind, können sie Glauben und Vertrauen einerseits als verletzliches Gut erleben, andererseits aber durchaus sogar als bezwingende Macht, die nicht weicht.

Glauben kann die Furcht vor dem Tod und die Furcht vor dem Leben mindern und letztlich überwinden. Unzählige Menschen haben das erfahren und erfahren das in den teils gewaltigen Schwierigkeiten und Bedrohungen in ihrem Leben. Sie spüren, wie das Leben doch trägt. Und wenn sie’s nicht spüren, vertrauen sie darauf.

Und selbst wenn der Tod sich meldet, unübersehbar, unüberhörbar, erinnern sie sich an die Osterbotschaft. Der Tod hat nicht mehr das letzte Wort. Das Leben ist stärker und wird siegen. Gott ist glaubwürdig und hat seinen Sohn aus dem Tod befreit.

Gott lässt sich aus der Welt und dem Leben nicht verdrängen. Wir dürfen uns an ihn halten. In unserer Furcht und in unserer Freude. Die schenkt uns Gott immer wieder. Und die Freude steht schließlich – ungetrübt, ohne Furcht, mit Gott – für uns bereit.

Wo stehen wir heute, Ostern 2020, in der Erzählung des Matthäus? Wohl hauptsächlich doch noch oder wieder im Status der ‚Furcht‘, sicherlich auch der Trauer, wenn nicht um Menschen, die wir persönlich kennen, dann aber bestimmt um die vielen Menschen, die in diesen Tagen und Wochen gestorben sind und sterben. Weniger aber sind die meisten derzeit wohl im Status der ‚großen Freude‘.

Auch die Frauen mussten’s mehrmals hören: „Fürchtet euch nicht!“ Selbst noch, als sie schon von „großer Freude“ ergriffen waren. Auferstanden aber war Jesus da schon.

Wir werden’s in unserem Leben wohl immer wieder uns sagen lassen müssen – und dürfen: „Fürchtet euch nicht!“ Wohl auch dann noch, wenn die derzeitige weltweite Bedrohung sich gelegt haben sollte, zumal wir, die Menschheit, die Welt, die Schöpfung Gottes ja nicht nur unter einer, sondern unter vielfachen und vielfältigen Bedrohungen leidet. Dazu gehören auch menschengemachte Bedrohungen, die jetzt da sind und sich nicht mehr so schnell und schmerzlos entfernen lassen.

Umso wichtiger ist es, Ostern zu feiern, Jahr für Jahr sich an Ostern zu erinnern, Ostern zu vergegenwärtigen und in unser Leben und Handeln, unser Denken und Fühlen, unser Glauben und Hoffen, unser Lieben und Vergeben, unser Weinen und Trauern, unser Lachen und unseren Ernst einziehen zu lassen.

Ostern möge uns nicht unverändert lassen, sondern neu beflügeln in der Hoffnung und dem Vertrauen, dass wir zu gegebener Zeit wieder aufatmen können und neu zum Leben und zur Welt, zueinander, zu uns selbst und zu Gott finden werden.

In diesem Sinne: Schöne und frohe und gesegnete Ostern 2020!

Gedanken zum Karsamstag 2020

Gedanken zum Karsamstag 2020 – von Pfarrer Andreas Strauch

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diese Worte aus dem 22. Psalm hat Jesus, so erzählen es die Evangelisten Markus und Matthäus, am Kreuz gerufen.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diese Frage steht auch über dem Karsamstag, dem Tag der Grabesruhe Jesu. In diesem Jahr mögen manche sie besonders drängend empfinden – nicht erst heute am Karsamstag. Vielleicht konzentriert sich das Gefühl der Gottverlassenheit heute aber besonders.

Der Karsamstag ist ein stiller, ein ruhevoller Tag. Ein Tag, an dem man sich der Leere, der Verlassenheit, der Einsamkeit aussetzen kann und darf, ja vielleicht sogar sollte. In diesem Jahr allerdings haben viele darin schon Übung.

Diese unfreiwillige Übung über nun schon mehrere Wochen, dieser Tage im bewussten Mitgehen des Weges vom Gründonnerstag bis zu Ostern, heute am Karsamstag womöglich besonders konzentriert und intensiv empfunden, kann uns öffnen für die Erfahrung, dass wir all dies nun eben doch nicht sind: Wir sind nicht leer, nicht einsam, nicht verlassen. Letztlich nicht, auch wenn wir’s derzeit, im Moment, anders empfinden.

Neu dürfen wir die Nähe und die Fülle Gottes empfangen. Dazu ist es gut und heilsam, sich bewusst dafür bereit zu halten.

Ganz verlassen war Jesus am Kreuz nicht: „Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.“ (Lukas 23,49).

Der Evangelist Lukas erzählt immer wieder von Frauen, von den Jüngerinnen, den Freundinnen Jesu – und von seiner Mutter Maria.

Frauen waren auch bei Jesu Grablegung zugegen, so erzählt es auch der Evangelist Lukas (23, 55.56): „Es folgten aber die Frauen nach, die mit ihm gekommen waren aus Galiläa, und sahen das Grab und wie sein Leib hineingelegt wurde. Sie kehrten aber um und bereiteten wohlriechende Öle und Salben. Und den Sabbat über ruhten sie nach dem Gesetz.“

Sie wollten Jesus ihr letztes Liebeswerk erweisen, seinen Leichnam mit wohlriechenden Ölen und Salben versehen.

Man mag auch an die Frau denken, von der Lukas weiter vorne in seinem Evangelium erzählt (gemeinhin die große Sünderin genannt – Kapitel 7), die Jesus die Füße küsste und mit Salböl salbte: Zeichen der hingebungsvollen, verschwenderischen Liebe. Umgekehrt hatte Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen und ihnen das Gebot der Liebe mitgegeben, wie der Evangelist Johannes erzählt (Kapitel 13).

Diese Öle und Salben also hatten die Frauen vorbereitet, um dann auch zur Ruhe zu kommen, um sich unterbrechen zu lassen, selbst im Dienst der Liebe.

Sie heiligten so den Sabbat, den Ruhetag Gottes, nicht nach seiner Schöpfung, sondern als Abschluss seiner Schöpfung – dieser geschenkt.

Segen liegt über diesem Ruhetag: „Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.“ (1. Mose 2, 3)

Der Tag der Grabesruhe Jesu war der Sabbattag, der gesegnete Ruhetag. Als ob Gott neu Atem holte. Als ob sein Heiliger Geist die Ruhe durchweht und belebt.

„Siehe, ich mache alles neu!“ So heißt es in der Offenbarung des Johannes (21, 5) nach der Verheißung Gottes, die der Seher gehört hatte: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Offb. 21, 4)

Der Ruhetag kann verstanden und begangen werden als Tag der Vorbereitung der Neuschöpfung Gottes: Leben wird neu erblühen, die Freude des Neubeginns keimt auf.

Wir spüren den Neuanfang Gottes oft gar nicht so recht. Und die Frauen? „Aber am ersten Tag der Woche sehr früh kamen sie zum Grab und trugen bei sich die wohlriechenden Öle, die sie bereitet hatten.“ (Lk. 24, 1)

Die Frauen machten weiter, wo sie aufgehört hatten, sie taten den nächsten Schritt – hin zum Grab – und waren doch längst Teil des umwälzenden Neuanfangs Gottes, des Ostergeschehens.

Die orthodoxen Kirchen nennen den Karsamstag den „Großen Sabbat“, den „heiligen Sabbat“. In ihm reift Ostern.

Uns kann der Karsamstag bereit machen für Ostern, für die Auferstehung, für neues Leben.

Wir wissen nicht, wann wir in unser gewohntes Leben zurückkehren können und dürfen. Ich frage mich allerdings auch, inwieweit es überhaupt das gewohnte Leben sein kann.

Neues Leben ist uns verheißen!

Ob das auch eine Abkehr von Schritten und Wegen sein kann, die der Menschheit, ja Gottes Schöpfung als Ganzer erkennbar nicht gutgetan haben, nicht guttun? Und was bedeuten und wohin führen andere, neue Wege für uns vor Ort, die wir in weltweite Zusammenhänge unlösbar eingebunden sind und doch auch unser Leben in unserem überschaubaren Nahbereich verbringen und gestalten?

Stille ist nicht Stillstand. Die Ruhe dient der Rekreation, wörtlich: der Neuschöpfung. Diese aber dürfen wir an uns geschehen und uns in sie mithineinnehmen lassen, also: uns von Gott auf den Weg des neuen Lebens setzen, uns von seinem Heiligen Geist leiten lassen.

Gott hat seinen Sohn Jesus Christus aus dem Tod auferweckt, das feiern Christen zu Ostern und im Gefolge von Ostern jeden Sonntag neu.

Sabbat und Sonntag. Ruhe, Rekreation, Auferstehungsfreude, neues Leben kommen zusammen. In der Abfolge des Karsamstags und des Ostermorgens zeigen sich unsere von Gott geschenkten Kräfte aufs äußerste verdichtet, die unser Leben halten, tragen und voranbringen können.

Auch wenn Angst und Sorge, Einsamkeit und Verlassenheit, Elend und Armut, Gewalt und Krieg, Flucht und Grenzen, Krankheit und Schmerzen, Niederlage und Verlust, Not und Tod, Tränen und Trauer vor Augen stehen – Gottes Weg führt uns weiter als unser Blick reicht. Dafür möge der Karsamstag uns offenhalten: Ostern steht wieder bevor.

Längst ist es Ostern geworden, und doch müssen wir immer wieder warten, manchmal lange, dieses Jahr bestimmt lange, auch über Ostern hinaus, aber nicht endlos lange! Halten wir den Karsamstag, die spannungsreiche Ruhe aus, halten wir uns bereit für das neue Leben!

Wie wird dieses Ostern uns verändern – hin zu Gott, zu seiner Schöpfung, zu unseren Nächsten, nah und fern? Wie werden wir uns selbst vorfinden – und neu finden?