Lesepredigt zum Ersten Sonntag nach Ostern 2020 – von Pfarrer Andreas Strauch
Predigttext für den zum Ersten Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti) 2020: Jesaja 40, 26-31:
26 Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.
27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«?
28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich.
29 Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.
30 Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen;
31 aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Liebe Gemeinde, ‚Lass den Kopf nicht hängen‘ oder ‚Kopf hoch!‘ sagen wir uns gerne, um uns gegenseitig Mut zu machen. Wieviel schöner noch klingt es hier: „Hebt eure Augen in die Höhe und seht!“ Um den Mut nicht zu verlieren oder um neuen Mut zu schöpfen, wird empfohlen und ermutigt zu schauen. Wenn man sich umsieht, nimmt man schon mehr wahr, als sich momentan im eigenen Kopf abspielt. Das Kreisen der Gedanken wird unterbrochen. Hier lesen wir die Empfehlung, hoch zu schauen, „in die Höhe“, und Klarheit zu gewinnen über die Frage, deren Antwort ja gleich mitschwingt: „Wer hat all dies geschaffen?“
Nun, was gibt’s denn zu sehen ‚in der Höhe‘? Probieren Sie’s einfach aus von Ihrem Fenster, Balkon, Garten.
Ich sehe bewaldete Berghänge, ergrünende Laubbäume, die Fichten sind ja immergrün (wenn sie die letzten beiden Sommer überlebt haben), ich sehe auch etliche blühende Bäume in herrlichem weiß. Ich sehe Vögel: Amseln, Tauben, Meisen, auch Enten, wie sie flattern, fliegen, gleiten. Ich sehe Wolken, weiße und graue, und blaue Stellen am Himmel, gelegentlich scheint die Sonne durch. Das ist der Blick, den ich heute, am Samstagnachmittag, von zuhause aus sehen und genießen kann. Spät abends konnte man an den letzten Tagen bei klarer Sicht auch einen herrlichen Sternenhimmel sehen. Dies alles im Blick relativiert sich die eigene Befindlichkeit doch!
„Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen?“ Der Blick in die Höhe lehrt uns, lehrt jeden einzelnen Menschen, sich als Teil des Ganzen zu sehen. Nicht weniger, nicht mehr. Dies kann trösten und stärken oder aber beunruhigen. Kann man denn in diesem Ganzen seinen Platz behaupten oder droht man unterzugehen?
Man kann ja auch unter sich schauen. Z.B. beim Spaziergang durch den Wald. Da sieht man zahllose Ameisen krabbeln und derzeit auch unüberschaubar viele ganz kleine Blümchen mit weißen Blüten. Es ist praktisch unmöglich, auf dem Weg um die Ameisen und Blumen herum zu gehen.
Wird man überhaupt wahrgenommen, ernstgenommen, beschützt als Teil des Ganzen im Ganzen? Das können sich einzelne Menschen, Familien, Gruppen in der Gesellschaft, ja sogar ganze Völker fragen, die sich verloren vorkommen, übersehen, überrannt, benachteiligt, der Möglichkeiten beraubt, in Recht und Würde leben zu können. Ihr klagender, verzweifelter Hilferuf kann lauten wie damals zur Zeit des Propheten: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«. Werden sie wahrgenommen in ihrem Leid und Elend?
– Das können Menschen in Pflegeheimen sein, die nach bestem Wissen und Gewissen und Können und in aller gebotenen Vorsicht und Umsicht versorgt und geschützt, begleitet und ermutigt werden, die aber unter der Einsamkeit leiden, da derzeit niemand von den Angehörigen zu Besuch kommen darf.
– Das können Kinder sein, die derzeit schon seit Wochen vorwiegend zuhause sind, nicht im Freien mit Freundinnen und Freunden spielen und toben können, sondern vielleicht sogar in engen Wohnverhältnissen ausharren müssen, vielleicht auch gestresste Eltern erleben, denen die Enge auch Probleme macht und die in ihr auch noch im Homeoffice arbeiten müssen und sich Sorgen um die Zukunft machen. Etliche Kinder erleiden zudem derzeit auch Aggressionen, Gewalt, Missbrauch. Sie brauchen dringend Hilfe von außen.
– Das können Menschen mit seltenen Krankheiten sein, für die eine Entwicklung von Medikamenten aus Sicht der Pharmaindustrie ökonomisch nicht rentabel erscheint.
– Das können geflohene Menschen sein, die in Booten auf dem Meer umhertreiben und in ihre Heimatländer zurückgeschickt oder in Europa nur widerwillig und nach unwürdigem Ringen an Land gelassen und vielleicht nach langer Zeit irgendwann auf einzelne Länder in Europa verteilt werden – oder auch nicht. Die dann wie so viele ihrer Leidensgenossinnen und Leidensgenossen in Lagern festsitzen, deren hygienische Bedingungen und allgemeine Gegebenheiten jeder Menschlichkeit und speziell auch jeder derzeit gebotenen Vorsicht spotten.
– Das können indigene Völker sein, in Brasilien etwa oder in Australien, deren Rechte permanent bedroht sind und für die sich einzusetzen allgemein offensichtlich nicht lohnend erscheint.
– Das können Menschen sein, die schwere Krankheitsverläufe aufgrund des neuen Virus erleiden, deren Angehörige wie sie selbst in Sorgen und Ängsten sich verzehren, ohne dass sie sich gegenseitig sehen können, genauso wie die Ärztinnen und Pfleger, die tagtäglich ihr bestes geben und nicht wissen, was noch alles auf sie zukommt an Arbeit, Verantwortung oder sogar eigener Erkrankung.
Ihr aller Hilferuf und der Hilferuf vieler mehr ist in unserem prophetischen Text in Worte gefasst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«. Der Prophet zitiert ihn als den Verzweiflungsruf Israels im Exil, das dort verbannt und festgesetzt, seiner Heimat beraubt ist und in seiner Identität gefährdet.
Der Prophet nimmt die Verzweiflung wahr und setzt ihr entgegen: „Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich.“
Ist das schon eine Hilfe, ein wirksamer Trost, eine tragfähige Ermutigung? Jedenfalls erinnert der Prophet die Menschen damals wie heute daran und macht es ihnen, uns neu bewusst: Als Teil des Ganzen überblicken wir nicht alles. Können es nicht und brauchen es nicht. Der Schöpfer des Ganzen steht dahinter, für uns nicht vollständig zu verstehen, zu begreifen, zu durchschauen, zu überblicken, zu erfassen, zu erforschen, zu durchdringen, zu entschlüsseln. Der Schöpfer des Ganzen steht dahinter: kraftvoll! Das ist wichtig, darauf kommt es an: dass wir Lebenskraft bekommen. Von Gott, der selbst „nicht müde noch matt“ wird.
Denn das Empfinden, verlorenzugehen, übersehen, nicht gewürdigt, nicht geachtet, übergangen und ausgeschlossen zu werden, nicht zu seinem Recht zu kommen und keine Perspektiven, keinen Weg vor sich zu sehen, dieses Befinden nimmt die Lebenskraft und den Lebensmut weg. Es führt zu Müdigkeit, Erschlaffung, Resignation, Depression. Auch Menschen, denen ihr Glaube wichtig ist und die sich von ihm tragen lassen, kennen das. Gegen solche Müdigkeit ist nicht immer leicht anzugehen. Sie kann bleischwer sein und nach unten ziehen. Dann ist auch alles schwer. Man muss sich dann zu allem aufraffen. Und auch das ist schwer.
Gott verurteilt die Müdigkeit nicht. Im Psalm 127 heißt es so schön (V.2): „Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen; denn seinen Freunden gibt er es im Schlaf.“ Eine Ermutigung zur Gelassenheit, eine Würdigung der Müdigkeit, der nachgegeben werden darf durch erholsamen Schlaf.
„Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.“ Müdigkeit darf sein, muss bald sein, damit sich Neues aufbauen kann, damit wir offen werden, um neue Kraft zu empfangen.
Das Wunder der Schöpfung Gottes, von der kleinen weißen Blume oder der Ameise auf dem Wege bis hin zu den fernen Sternen und Galaxien, das Wunder jeden Lebens, des Lebens von Pflanzen, von Tieren, von Menschen, das Wunder der Schöpfung Gottes ist, dass sie durchdrungen ist von Gottes Lebenskraft, von göttlichem Atem, vom Heiligen Geist. Das ist unsere Kraftquelle. Das sind Wunder des Schöpfergottes, wenn Menschen aus ihrer Müdigkeit, Resignation, Depression, Verzweiflung, Mutlosigkeit heraus wieder neue Kraft bekommen und Lebensmut spüren.
„Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen“ – gerade Menschen, die als Sinnbild für Kraft, Unverwüstlichkeit, Unverwundbarkeit stehen, sind gemeint und angesprochen. Menschen im Vollbesitz ihrer Kräfte, das können Frauen wie Männer sein, Menschen, die im Vollbesitz ihrer Kräfte viel leisen und leisten müssen, Verantwortung übernommen haben und deswegen ohnehin – und viel mehr noch in unsicheren Zeiten bei unsicheren Aussichten – erheblich unter Druck stehen. Sie sind stark und können schwach werden, können verletzt und krank werden, finanziell, wirtschaftlich ins Schlingern geraten, und sie wissen es und sehen es bei anderen und befürchten es für sich selbst. Was soll werden?
Es folgt die wunderschöne, beschwingende Aussicht, die von solchen oder vergleichbaren Sorgen, Befürchtungen, Ängsten ausgeht und sich von diesen bewusst abhebt – als Gegenaussicht, deshalb beginnt sie auch mit dem Wort „aber“: „aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“
Kraft und Schwung, Glaube und Hoffnung, Vertrauen und Zuversicht können wir nicht herbeizaubern.
Das Wunder der Schöpferkraft Gottes spüren wir in uns, wenn wir neue Kraft in uns wahrnehmen, die uns beschwingt. Offenheit statt Verschlossenheit, Geduld statt Aufgabe, Ausharren statt Erzwingen – das kann man dafür aufbringen, um solchen Zugewinn von Kraft und Lebensenergie geschehen zu lassen – und auch wahrzunehmen und schließlich zu nutzen.
Der Blick in die Höhe kann sicherlich helfen, weil er die Gedanken zurechtrückt und uns die Erinnerung an Gottes Schöpferkraft stärken kann. Wir dürfen uns als Teil der ganzen Schöpfung Gottes verstehen und gleichzeitig als ein ganzes Schöpfungswerk Gottes von vielen, unzähligen: von Gott wahrgenommen, gewürdigt, gesegnet und geliebt: „Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.“ Auf diesem einen Schöpfungswerk Gottes, auf Dir und auf mir, wie auf allen, wirklich jedem einzelnen Schöpfungswerk, ruht Gottes Segen, diesem einen wie allen gilt Gottes ganze Liebe. Mit solcher Glaubenshaltung und Lebenseinstellung können wir, kann jeder Mensch offen und empfänglich werden und bleiben, um von Gott „neue Kraft“ zu bekommen, neuen Schwung – und neu beflügelt zu werden.
Der Flug des Adlers ist schwungvoll, erhaben, edel. Seit alters her ist der Adler Symbol für die Auferstehung, Gottes Lebenskraft, die aus Tod und Erstarrung, aus Trauer und Aussichtslosigkeit erwachsen und erblühen kann.
Wir brauchen Gottes Lebenskraft, jetzt, da viele Menschen bis zur völligen Erschöpfung arbeiten müssen und viele andere sich zu weitgehendem Stillstand genötigt sehen und dabei feststellen, dass auch dies Kraft kostet und erfordert. Jede Hilfe, die geleistet werden kann, lohnt, da sie andere Menschen stärkt.
So lässt sich dieser prophetische Ausspruch durchaus auch für Christenmenschen heutzutage als in Bildsprache gefasster und auf solche Weise anschaulich ausgedrückter Osterglaube lesen: „aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“
Mögen wir dies, wenn nicht schon jetzt, dann aber doch in absehbarer Zeit erneut am eigenen Leibe, im eigenen Leben erfahren. Amen.