Lesepredigt zum Dritten Sonntag nach Trinitatis 2020 (28. Juni 2020)

Von Pfarrer Andreas Strauch

Hesekiel (= Ezechiel) 18, 1-4.21-24.30-32:
1 Und des Herrn Wort geschah zu mir:
2 Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«?
3 So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel.
4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben.
21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben.
22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat.
23 Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?
24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern wegen seines Treubruchs und seiner Sünde, die er getan hat, soll er sterben.
30 Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der Herr. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt.
31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel?
32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod dessen, der sterben müsste, spricht Gott der Herr. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.

Liebe Gemeinde,
Sprichwörter geben Erfahrungen weiter.
Das zitierte Sprichwort von den sauren Trauben, die die Väter essen – und die Kinder bekommen davon stumpfe Zähne – war seinerzeit bekannt und in Umlauf.
In ihm spiegelt sich eine Erfahrung wider, die zeitübergreifend ist.
Wie oft müssen Menschen die Suppe auslöffeln, die andere ihnen eingebrockt haben – so sagen wir in einer Redewendung.
Manchmal ist es uns gar nicht bewusst:
Wir sind – auch – Produkt von Verhältnissen.
Wir sind geprägt.

Das Elternhaus, in dem wir aufgewachsen sind, spielte eine wichtige, schwer zu überschätzende Rolle für unser Leben; das Elternhaus, in dem Kinder aufwachsen, spielt eine wichtige, schwer zu überschätzende Rolle für deren Leben:
für die Bildung,
für die Gesundheit (durch die Ernährung),
für das Selbstbewusstsein (durch Ermutigung, Wertschätzung, Vertrauen, Freiheit, Liebe),
für soziale Kontakte:
Mit welchen Menschen kommen wir zusammen?
Was wird gefördert, was nicht?
Welche Umgangsformen lernen Kinder und Jugendliche, welche Werte? Was haben wir Erwachsene seinerzeit davon gelernt und uns bewahrt?
Wurde/ wird offen geredet im Elternhaus – oder geschwiegen? Konnte etwa die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit mit den Eltern, die diese miterlebt haben, geführt werden – wenn ja: wie konnte sie geführt werden?
Wie wird mit Konflikten, Fehlern, Schuld umgegangen? –
Vieles bekommen wir von zu Hause mit, haben wir dort gelernt, hat Einfluss auf unser Verhalten, Empfinden und Denken.

Aber auch die politischen Verhältnisse prägen Menschen:
In welchem politischen System wächst man auf?
In einer Demokratie, in einer Diktatur? Kennt man von daher Angst oder Widerstand oder Mut oder Feigheit oder Bedrückung oder Freiheit – wie mischt sich das?

Schließlich sind wir auch in unserem Glaubensleben geprägt, auch da fragt sich:
Was haben wir mitbekommen?
Was ist uns wichtig geworden?
Erfahren wir den Glauben eher als einengend oder als befreiend?
Wer hat uns geprägt? Oft sind es Großmütter gewesen. Oder Mitarbeiter der Jugendarbeit. Manchmal auch ein Pfarrer oder eine Pfarrerin.

Also: Wir sind Produkte von Menschen und Verhältnissen – auch.
Und für vieles müssen wir geradestehen, was andere vor uns, mit uns und für uns gemacht oder nicht gemacht haben.

So können wir uns nicht einfach der Versöhnungsarbeit verweigern, nur weil wir Nachgeborene sind. Die Gräuel der NS-Zeit und auch des ersten Weltkrieges legen uns später Lebenden Verpflichtungen auf.

Und wir heute Lebenden müssen auch an unsere Nachgeborenen denken!
Mit unserem Lebenswandel, unserem Umgang mit Ressourcen, unseren Bemühungen zum Artenschutz fallen die Entscheidungen für die Zukunft. Jetzt werden die Weichen gestellt!
Nachfolgende Generationen bekommen hoffentlich keine stumpfen Zähne – wenn wir heute keine sauren Trauben essen!
Nachfolgende Generationen finden die Ergebnisse und Konsequenzen unserer Entscheidungen vor.

Wiederum: Auch kirchlich haben wir erlebt: Zwei bis drei Generationen haben ausgereicht, um einen weitgehenden Traditionsabbruch  entstehen zu lassen, der sich nur ganz langsam wieder auffüllen lässt.

Und doch – ist das alles nicht alles, es ist nur die halbe Wahrheit, weniger sogar.

Die Israeliten dachten auch so, wie es das damals gängige Sprichwort ausdrückt: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ (s.o. Hes./Ez. 18, 2 b)
Sie waren im Exil.
Das waren ihre stumpfen Zähne.
Verursacht von den sauren Trauben der Väter: die ständige Abkehr von Gott.
Hesekiel (in der Luther-Bibel genannt: Ezechiel), der Prophet, der erst im Exil zum Propheten berufen wurde, teilt ihnen den anderen Teil der Wahrheit mit, den größeren: Gottes Wahrheit.
Er setzt das Sprichwort außer Kraft – in gewisser Weise jedenfalls.
Nicht weil es gar nicht stimmt.
Sondern weil man da nicht stehen bleiben soll.
Damals nicht wie heute nicht.
Es gibt nicht nur die Verantwortung der Vorfahren, es gibt auch eine eigene Verantwortung!
Um die geht es.

Jeder Mensch ist für sein Leben selbst verantwortlich.
Jeder Mensch ist dabei unmittelbar zu Gott.
Man kann sich da nicht auf andere berufen oder an andere dranhängen.
Es geht darum, was wir aus unserem Leben machen, wie wir uns zu Gott stellen – heute, unabhängig von den Lasten unserer Vergangenheit, wenn auch unter ihren Bedingungen.

Ja, die Vergangenheit prägt unser Leben – immer, jeden Tag wird unsere Vergangenheit länger und kommen Erfahrungen, eben auch prägende Erfahrungen hinzu.
Aber lähmen, festlegen kann und soll die Vergangenheit uns nicht.
Nicht solange wir leben.
Sonst wären wir wirklich tot.
Wir haben immer noch selber Handlungsspielraum.

Das ist ein Gedanke, der gerade auch evangelischen Christen guttut.

Natürlich betonen wir immer wieder, wie wir von Gott, dem dreieinigen Gott, gefüllt sind, wie wir Gott im Grunde nur machen lassen müssen.
Dass es – vor allem Handeln – das wichtigste ist, sich für Gott offen zu halten: nicht den eigenen Werken das Entscheidende zuzutrauen, sondern Gottes Werken, Gottes Handeln.
Es stimmt und kann gar nicht oft genug gesagt werden.
Paulus und Luther haben es immer wieder erfahren und gesagt.
Das ist evangelische Freiheit.
Freiheit vom Zwang, es selbst richten zu müssen oder zu wollen.
Das ist Evangelium pur!

Und daraus ergibt sich, wie von selbst: Derart von Gott gefüllt, sind wir nun auch in der Lage, selbst etwas zu tun.
Aus dem Empfangen folgt Kraft, Können!
„Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist.“ (s.o. Hes./Ez. 18, 31 a)
Tatsächlich!
Dazu werden die Hörenden des prophetischen Wortes aufgefordert, befähigt, ermutigt, ermächtigt!
Auch wir?

Ja, die Vergangenheit muss und soll uns nicht lähmen und festnageln.
„Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben …“ (s.o. Hes./Ez. 18, 22)
Immer wieder ist Neuanfang möglich – freilich unter den Bedingungen und Prägungen der Vergangenheit.
Sie können stark sein, aber solange wir noch Kraft zum Atmen haben, solange wir noch leben, können wir jeden Tag neu entscheiden,
wie wir unser Leben gestalten,
wie wir unsere Kraft und unsere Zeit einsetzen und wem wir sie zugutekommen lassen,
wie wir mit unseren Fehlern umgehen – und denen anderer,
wie wir uns zu Gott stellen,
wie wir seine Gebote – Angebote zur Freiheit und zu einem guten, von Liebe geprägten Leben – nutzen; sie gipfeln im Gebot der Gottes-, der Nächsten-, der Selbstliebe, keines ohne das andere, alles miteinander.
Es wird uns auch etwas zugetraut und zugemutet.

Jeden Tag können und müssen wir das neu entscheiden.
Nicht einmal.
Man kann sich einmal entscheiden.
Aber jeden Tag will das umgesetzt und gelebt werden.
Daher ist auch Bekehrung nichts Einmaliges, sondern immer neue Hinwendung zu Gott.
Und Umkehr ist nicht ein ständiges Vor und Zurück, sondern eine immer neue Orientierung am Lebenswillen und Lebensangebot Gottes für uns – mit dem Blick der Liebe auch für unsere Vorfahren, die uns geprägt haben, und mit dem Blick der Liebe auch für unsere Kinder, Enkel, Urenkel und die Generationen, die wir nicht mehr persönlich erleben und kennen lernen werden.
Auch sie wollen leben.
Machen wir Heutigen es ihnen nicht zu schwer und engen sie nicht ein in ihren Möglichkeiten.
Gott will unser Leben – ganz gewiss.
Das Leben der Menschheit, der Tiere und der Pflanzen, das Leben seiner ganzen Schöpfung, seiner Welt in den Jahrhunderten und Jahrtausenden.
Ergreifen wir Gottes Lebenswillen dankbar und beherzt.
Wenden wir uns erneut zu Gott hin, der Quelle unseres Lebens, der wir uns täglich verdanken. – Amen.