Lesepredigt zum 3. Sonntag nach Trinitatis (28. Juni 2020)

von Pfr. Ralf Arnd Blecker.

Er hat zwei Seiten, liebe Leserin, lieber Leser!

Zunächst die eine: Er ist ein knallharter Kritiker.

Er kritisiert zum Beispiel den Immobilienmarkt:

Weil sie die Macht haben, begehren sie Äcker und nehmen sie weg, Häuser und reißen sie an sich. So treiben sie Gewalt.“

Er beklagt: die Mächtigen beuten die einfachen Leute aus:

Sie hassen das Gute und lieben das Arge; sie schinden ihnen die Haut ab und das Fleisch von ihren Knochen und fressen das Fleisch meines Volks.“

Und er prangert Korruption an und puren Eigennutz:

Die frommen Leute sind weg in diesem Lande, und die Gerechten sind nicht mehr unter den Leuten. Sie lauern alle auf Blut, ein jeder jagt den andern, dass er ihn fange. … Obere und Richter fordern Geschenke.“

Die Rede ist vom Propheten Micha, einem Zeitgenossen Jesajas.

Ich habe im Präsens formuliert, aber der Prophet Micha lebte vor 2.700 Jahren im heutigen Israel.

Man vermutet, er war ein armer Bauer oder ein Landarbeiter, vielleicht aber auch ein kleiner dörflicher Grundbesitzer. Michas Worte aus einer längst vergangenen Zeit werden merkwürdigerweise auch heute verstanden.

Seine Kritik am Häuser-an-sich-reißen verstehen heutige Geringverdiener gut, wenn sie in München, Bremen, Hamburg oder in Berlin eine bezahlbare Wohnung suchen. Die Kritik an der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft – man versteht sie auch heute. Nicht nur als osteuropäischer Arbeiter in einem deutschen Schlachthof.

Und dass der eine versucht, den andern zu übervorteilen – auch das verstehen Menschen 2.700 Jahre nach Micha.

Das war nun die eine Seite des Propheten Micha, die knallharte Sozialkritik.

Gleichzeitig jedoch ist er ein großer Visionär.

Eine Vision kennen Sie bestimmt:

„Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter Tausenden in Juda, aus dir soll mit der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.“ (Micha 5)

Diese Weissagung Michas hören die Weisen aus dem Morgenland und machen sich auf, um den Heiland der Welt als Kind armer Leute in einer Krippe im letzten Winkel der damals bekannten Welt zu finden.

Ähnlich bekannt ist Michas Vision eines göttlichen Friedens, in dem ab- und umgerüstet wird:

„Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“ (Micha 4,3-4)

Und es ist schon erstaunlich: Der Prophet Micha lieferte das Motto für die DDR-Friedensbewegung in den 70er Jahren, das dann auch von der westdeutschen Friedensbewegung   übernommen wurde: Schwerter zu Pflugscharen!

Hier haben wir die andere Seite von Micha, die visionäre. Zur visionären Seite gehört auch der Schluss des Buches Micha.

Und hierher gehört der Predigttext, den unsere Perikopenordnung für den 3. Sonntag nach Trinitatis (28. Juni 2020) vorsieht::

„Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.“ (Micha 7,18-20)

In einer besonderen Weise stellt Gott sich hier vor. Nicht als der Mächtige, der Allmächtige – wie zum Beispiel im 2. Buch Mose:

Wer ist dir gleich unter den Göttern? Wer ist dir gleich, der so herrlich und heilig ist, schrecklich … und wundertätig?“ (2. Mose 15,11)

Gott stellt sich auch nicht als einer, der Stärke verleiht wie zum Beispiel im Psalm:

„Wo ist ein Gott außer dem HERRn oder ein Fels außer unserm Gott? Gott rüstet mich mit Kraft.“ (Ps. 18,32)

Nein, hier am Ende des Micha-Buches, stellt Gott sich anders vor.

Barmherzig ist dieser Gott.

Und er vergibt.

Vergibt Sünde und Schuld.

Wie die Allmacht ist auch die Barmherzigkeit biblische Tradition:

„Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte.“ (aus Ps. 103, dem Wochenpsalm )

Und auch Mose wusste bereits von diesem vergebenden Gott:

„HERR, HERR Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue. Der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied.“ (2. Mose 34)

Selbst das zuletzt Genannte wäre Gnade. Und Barmherzigkeit. Und Vergebung: Wenn die Sünden unserer Generation bereits in drei oder vier Generationen wieder getilgt wären. Und die Meere wieder frei wären von Mikroplastik, die Erderwärmung gestoppt und der Ausstoß von Schadstoffen massiv gesenkt wären.

Aber wo ist solch ein Gott, der die Sünde vergibt, der die Schuld erlässt und sich erbarmt?

Wo ist dieser barmherzige, gnädige, geduldige und gütige Gott?

An diesen Gott der Gnade und Barmherzigkeit, der uns viele Jahrhunderte nach Micha in Jesus begegnet, scheint kaum jemand zu glauben.

Vielleicht, weil die Menschen am liebsten selber mächtig sind und am allerliebsten allmächtig.

Und keine Gnade walten lassen, geschweige denn Barmherzigkeit, vor allem, wenn´s um Geld geht, um den Gewinn.

Was immer geht, wird gemacht und so viel aus Mensch und Kreatur herausgepresst, wie irgend möglich.

Ein barmherziger und gnädiger Gott – der störte nur.

Er störte nicht allein die Geschäfte.

Auch die Gefühle würde er durcheinanderbringen: die Rache-Gefühle zum Beispiel, in denen man so wunderbar baden kann.

Und die Vergeltungsphantasien wie „Das zahle ich dir heim!“

„Lobe den HERRn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Barmherzigkeit.“ (Ps. 103)

Wenn ich mich – sei es betend, sei es singend – in diesen barmherzigen Glauben hineinschwinge, dann spüre ich, dass ich Gutes empfange; dass ich mir zwar meine Brötchen verdient habe, mein Leben mir aber nicht selbst verdient habe.

Ein barmherziger Gott hat mich „geschaffen … samt allen Kreaturen“, hat „mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben… Und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit.“ ( Martin Luther, Der Kleine Katechismus, Das Zweite Hauptstück, EG 806.2 )

Wer so zu glauben versucht, muss über die eignen Allmachtsgelüste lächeln.

Und wird – zwangsläufig fast! – selber barmherzig und lässt die Rache- und Vergeltungsphantasien dahinfahren.

Und erkennt, wie viel Vergebung er oder sie selber nötig hat.

Wer an den Gott der Bibel glaubt, der barmherzig und gnädig ist wie der Vater in Jesu Gleichnis vom verlorenen Sohn, wird selber Gnade walten lassen gegenüber Mensch und Kreatur, selbst wenn es ums Geld geht.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“, empfahl Jesus. (Lk 6,36)

Und: „Vergebt, so wird euch vergeben.

Das gelingt – spielend, behaupte ich, wenn ich meine Seele Gott loben lasse und so nicht vergesse, was er mir Gutes getan hat. Amen.

Gebet:

Ach Gott, Vater im Himmel, zu dir dürfen alle kommen, Gute und Böse, Gerechte und Ungerechte. Ach Gott, lehre uns:die Augen aufmachen, hinsehen, wahrnehmen. Mach uns empfindsam für dich, für andere und für uns selbst. Lass uns neue Menschen werden, Glaubende, Vertrauende. Hoffende. Dies bitten wir dich in Jesu Namen. Amen.

Wochenspruch:

Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. (Lukas 19, 10)


Wochenlied zum Mitsingen (2 Youtube-Links):

Ev. Gesangbuch (EG) Nr. 353: „Jesus nimmt die Sünder an