Lesepredigt zum Zweiten Sonntag nach Trinitatis 2020 (21. Juni 2020)

Von Pfarrer Andreas Strauch

Epistel zum Zweiten Sonntag nach Trinitatis: Epheser 2, 17-22:
17 Und er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren.
18 Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater.
19 So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen,
20 erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist,
21 auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn.
22 Durch ihn werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.

Liebe Gemeinde, die ‚Fernen‘ und die ‚Nahen‘ – wer sind sie, wer waren sie?
Damals waren gemeint: Christenmenschen unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlicher Vergangenheit und unterschiedlichen Traditionen. Dies hatte den Unterschied gemacht: nah oder fern!
Zwei Hauptgruppen gab es: die Judenchristen und -christinnen sowie die Heidenchristen und -christinnen. Für beide Gruppen von Christenmenschen war es noch recht neu, nun Christenmenschen zu sein, in christlichen Gemeinden zu leben – dieses Gefühl und Bewusstsein des Neuen hatten beide Gruppen und verband beide Gruppen.
Aber: Die einen waren eben doch eher und stärker „fern“. Das waren die Heidenchristen. Ihr religiöser Weg, den sie zurückgelegt hatten, war länger. Sie hatten vorher zu dem Gott Israels keine Beziehung gehabt. Es war nicht ihr Gott gewesen, den sie angebetet und verehrt hatten. Sie hatten andere Götter – ja: Mehrzahl! – z.B. Fruchtbarkeitsgötter oder Sterne, Gottheiten der Antike. Ihnen galten ihre Verehrung und ihre Gebete. Christenmenschen mit dieser religiösen Vergangenheit waren „Heiden“, „Völker“ gewesen, was keineswegs abwertend gemeint war. Der Gott Israels wurde mit ihrem neuen Bekenntnis und ihrer Hinwendung zum Christentum auch ihr Gott, ihr Vater-Gott, Vater Jesu Christi.
Im Vergleich zu den Heidenchristen war der Weg dagegen, den die Judenchristen zurückgelegt hatten, als sie Christenmenschen wurden, kürzer – sie waren eher „nahe“. Der Gott nämlich, den sie immer schon angebetet und verehrt hatten, den Gott Israels, den Gott Abrahams, Jakobs, Josefs, diesen Gott beteten sie weiterhin an, ihm galt weiterhin ihre Verehrung, war er doch der Vater Jesu Christi, zu dem sie sich nun als Christen bekannten.

Interessant nun und keineswegs zufällig oder austauschbar: Der Apostel spricht eine der beiden Gruppen direkt an. Seine Worte richten sich direkt an diejenigen, „die ihr fern wart“ (s.o. in Epheser 2, 17), also an die Heidenchristinnen und Heidenchristen. Die bedürfen der persönlichen Ansprache, des unmittelbaren Zuspruchs. Sie sind hinzugekommen – von weiter her, von weit her. Sie brauchen Ermutigung. Fremdeln sie noch ein wenig?

Die Botschaft des Apostels an sie: „Ihr gehört dazu“!

Die Heidenchristen und Heidenchristinnen sollen vernehmen und verinnerlichen: Sie sind nicht mehr „Gäste“. In diesem Wort klingt und schwingt schon im Griechischen mit, was dann mit einem anderen Wort auch ausdrücklich ausgesprochen wird: „Fremdlinge“. Beides sind sie aber nicht, nicht mehr.
Ein Gast ist fremd. Deswegen ist man ja gut zum Gast. Weil er sich nicht auskennt, womöglich alleine nicht so gut zurechtkommt. Als Gast wird man – so soll es sein, so ist es guter Brauch, ja ungeschriebenes Gesetz – Gastrecht! – als Gast also wird man gut behandelt. Zuvorkommend und aufmerksam. An nichts soll es fehlen. Wie zuhause soll sich der Gast fühlen. Der Gast ist aber eben nicht zuhause. Er ist fremd. Entsprechend ist der Gast höflich, vorsichtig, behutsam – vielleicht sogar ein bissen (über)angepasst. Vielleicht auch etwas unsicher. Es ist nicht eigenes Terrain, auf dem der Gast sich bewegt.

Das hat ein Ende! Das ist die klare und unmissverständliche Botschaft des Apostels an die Heidenchristinnen und Heidenchristen: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (s.o. Epheser 2, 19). Daheim in Stadt und Haus. Daheim in der Kirche und in der Gemeinde Jesu Christi. Da gibt es keine Unterschiede zu den Judenchristinnen und Judenchristen. Die Unterschiede des Herkommens und der Vergangenheit spielen da keine Rolle. Sie haben keinen Belang. Sie sind zwar im Gedächtnis aufgrund der unterschiedlichen Lebens- und Glaubenserfahrungen, natürlich! Aber beide Gruppen haben nun doch denselben Gott, einen Gott. Und Christus „hat im Evangelium Frieden verkündigt“ (s.o. in Epheser 2, 17). Euch und ihnen. Euch, den Heidenchristinnen und Heidenchristen, und ihnen, den Judenchristen und Judenchristinnen. Beiden. Das verbindet und zählt mehr als die alten Unterschiede. „Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater.“ (s.o. Epheser 2, 18) Der dreieinige Gott verbindet seine Gemeindeglieder untereinander und mit sich und hält seine Gemeinde und seine Kirche zusammen.

Die ‚Fernen‘ und die ‚Nahen‘ – wer sind sie heute? Ich meine, wir können von den Worten des Apostels lernen, das Denken und manchmal auch Urteilen in solchen Kategorien aufzugeben. Die Unterscheidung fern – nah ist, was Christenmenschen betrifft, hinfällig geworden, sie ist überholt, sie ist nicht sachgerecht:
Wenn man von ‚Kerngemeinde‘ spricht, denjenigen, die sich engagieren, die im Gottesdienst sind, die am Leben anderer interessiert sind, die mitdenken, die zupacken und mithelfen, offensichtlich oder im Verborgenen, wenn man also von der ‚Kerngemeinde‘ spricht und diese nicht eng begrenzt, dann meint man damit Menschen, für die jede Gemeinde dankbar sein kann, darf und soll. Auch in diesen Personengruppen gibt es schon erhebliche Unterschiede, was Vergangenheit und Herkommen betrifft. Manche sind religiös-kirchlich aufgewachsen, waren z.B. im Kindergottesdienst, kennen Gebete vorm Einschlafen oder am Tisch, manche bekommen näheren und nachhaltigen Kontakt zur Kirchengemeinde in der Konfi-Zeit oder in der Jugendarbeit, manche später als Erwachsene, als Konfi-Eltern beispielsweise oder wenn wie an einer Aufgabe, z.B. im Kirchenvorstand oder einem seiner Ausschüsse, Interesse und Erfüllung in ihr finden. Oder wenn sie einen neuen Zugang zum Gottesdienst bekommen, weil sie dort für sich Lebens- und Glaubenshilfe, Orientierung und Stärkung erfahren – durch die Gemeinschaft der versammelten Gemeinde, durch Musik und Lieder, durch die Andacht, durch die Texte der Bibel, der Gebete, der Predigt. Oder sie haben Zugang und Heimat in einem Chor der Gemeinde gefunden.
Wer aber seinen Glauben anders lebt, zurückhaltender, weniger sichtbar und öffentlich, weil ihm oder ihr das vom Naturell her eher liegt oder auch weil man gar keine anderen Möglichkeiten hat als alter Mensch oder als im Beruf oder in der Familie stark beschäftigter Mensch – ist deswegen noch lange nicht fern.

Diese Unterscheidung hat der Apostel schon hinter sich gelassen: „die ihr fern wart“, „die nahe waren“ (beide Male Vergangenheit! – s.o. Epheser 2, 17). Diese überwundene Unterscheidung taugt nicht, um Wertungen oder Rangfolgen vorzunehmen. Wie nahe oder ferne jemand zu oder von Gott steht, ist unseren Blicken, unserer Einsicht entzogen – und daher auch unseren Bewertungen und Urteilen.

Durch die Taufe sind wir mit Christus verbunden, weil sich Christus mit uns verbunden hat – ein für alle Male – und im Abendmahl stärkt Jesus Christus unser Bewusstsein für die Verbindung mit ihm und die Verbindung untereinander. Er erinnert uns daran, dass er Frieden verkündigt, ja der Friede ist. In der Taufe werden Menschen Christenmenschen, denn Christus bekennt sich zu ihnen. Im Abendmahl erfahren, schmecken und sehen wir den Frieden Christi immer neu als Grund, als Wahrheit, als Ziel unseres Lebens. So verstehe ich das Abendmahl auch nicht exklusiv, sondern inklusiv, nicht ausschließend, sondern einschließend, zusammenführend, zusammenhaltend. Die Dazugehörigkeit, die Zusammengehörigkeit aller Christenmenschen kann im Abendmahl exemplarisch dargestellt und erlebt und gesehen werden. Diese Kraft trägt es in sich. Es ist die Kraft Christi.

Das Leben der Gemeinde fasst der Apostel in das Bild vom Bau, das er detailliert zeichnet (s.o. Epheser 2, 20.21): Der Grund sind die Apostel und Propheten, der Eckstein ist Jesus Christus. Der Bau ist ineinandergefügt und wächst so „zu einem heiligen Tempel in dem Herrn.“ (s.o. Epheser 2, 21) Und er spricht seiner Gemeinde, in der der Unterschied von Fernen und Nahen ja schon überwunden und aufgehoben ist, zu: „Durch ihn (= den Herrn) werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.“ (s.o. Epheser 2, 22)

Wir sagen manchmal: Das hat mich aufgebaut. Das meint auch: aufgerichtet. Die Richtung geht nach oben. Es geht aufwärts. Man steht wieder aufrecht, gerade. Man ist wieder selbstbewusst.
Wir sind nicht fertig. Auch an einem Menschen kann ‚gebaut‘ werden. Auch an einer Gemeinde. Wird man, ist man aufgebaut, aufgerichtet, wachsen wir nach oben – im Bild: zum Himmel. Wir wachsen zu Gott.

So weisen auch Kirchenbauten nach oben. Durch den Turm, durch die Gewölbe. Gerade an unserer Haigerer Stadtkirche kann man das schön sehen: wie sich ein Bau entwickelt, wie zum Alten Neues hinzukommt. Wie der Blick zum Himmel freigegeben wird. Wie den Menschen geholfen wird, um Gottes Wort (vermittelt durch die „Apostel und Propheten“ (s.o. Epheser 2, 20) – in der Lesepredigt vom letzten Sonntag war die Rede von „Mose und den Propheten“ (s. Lukas 16, 29+31) – von ihnen abgelauscht und weitergesagt) zu vernehmen.
Vieles in der Baugeschichte ist auch Frömmigkeitsgeschichte. Manches ist aktuell geblieben. Z.B., dass eine Kirche Schutz bietet: Geborgenheit, Behausung – eben: für „Gottes Hausgenossen“ (s.o. Epheser 2, 19). Dann: der Turm als Wehrturm, der auch für die Gewährung des Schutzes ‚von oben‘ steht. Weiter: Die Gewölbe: gedrungen – in der Zeit der Romanik, noch im Mittelalter, auch sie: schutzbietend. Später – in der Zeit der Gotik – wurde der Chorraum angebaut. Die Fenster dort sind eher spitz, schmal. Dadurch wirken sie hoch, zum Himmel weisend. Wie überhaupt die Gemälde im Chorraum den Blick in den Himmel freigeben sollen: den Blick ins himmlische Jerusalem, den Blick zu Christus, dem Weltenrichter. Die Bilder hatten (und haben?) auch eine warnende und mahnende Funktion. Dann entfernte man die Bilder, indem man sie übertünchte. Die Kirche war evangelisch geworden – zuerst lutherisch, dann reformiert, später uniert. Jetzt, gerade da, ging es um die völlige Konzentration auf das gesprochene Wort. Die Bilderpredigt wurde abgelöst durch die auf Deutsch gehaltene Predigtrede. Die Kanzel wurde angebracht – mit dem Schalldeckel über ihr, die den Klang der Stimme zu den Ohren und Herzen lenken sollte. Aber auch der Inhalt der Predigten hat sich gewandelt, auch die Theologie. Der Gedanke des Gerichts, das Strafe und Verdammung nach sich ziehen konnte, wovor eben die überstrichenen Bilder drastisch warnten, wurde überführt in ein Verständnis der Gnade Gottes, an der alles liegt und auf die im Glauben an Christus gesetzt werden darf. Der Glaube zählt, nicht das unerreichbare tadellose Leben. Anfang des letzten Jahrhunderts – vor 115 Jahren – wurden die wieder entdeckten Bilder freigelegt. Wir sehen wieder die Passionsgeschichte, Jesu Leidenskampf, seine Hingabe für uns. Wie sehen, zu welcher Grausamkeit Menschen fähig sind. Wir sehen die Apostel, die Gottes Wort verkündigt und weitergetragen haben und dafür gelitten haben. Wir sehen und wir hören. Wir hören Gottes Wort: Gottes Liebe, Gottes Frieden. Sehen und Hören ergänzen sich, schließen sich nicht mehr aus.

Liebe Gemeinde, der Abschnitt aus dem Epheserbrief spricht Christenmenschen an und ist an Christenmenschen gerichtet. Aber er weitet doch den Blick und öffnet Ohren. Die Unterscheidung von ‚Fernen‘ und ‚Nahen‘ in der Gemeinde hat keine sachliche Grundlage mehr. Aber wenn wir die Augen und Ohren offenhalten und wenn wir hinaussehen aus unseren Kirchen und Häusern in die Straßen unserer Dörfer und Städte und dabei hinhören, und wenn wir mit Hilfe von Fernsehen und anderer Nachrichtenmedien in die Welt – ins nahe und ins ferne Ausland – schauen und hinhören, was wir von dort erfahren: Wie verhalten wir uns gegenüber Menschen, die wir als ‚fern‘, als ‚fremd‘ empfinden – in unseren Einstellungen und unseren Taten, in unseren Worten über sie und unseren Worten zu ihnen?
Gegenüber wem kommt uns der Satz aus dem Epheserbrief (2,19), hier etwas verkürzt, über die Lippen: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger … und … Hausgenossen“?
Oder wie klingt folgender Satz in der heutigen Zeit in Deutschland gesprochen, einem der reichsten Länder der Welt, das bisher auch vergleichsweise glimpflich durch die schwere Krise der letzten Monate gekommen ist, ein Satz aus dem alttestamentlichen Lesungstext für den heutigen Sonntag: „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!“ (Jesaja 55, 1)
Und wie schließlich klingt der Wochenspruch für den heutigen Sonntag, ein nur vom Evangelisten Matthäus überliefertes Wort Jesu: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ (Matthäus 11, 28)
Die Sprengkraft und die Wucht solcher Worte, das Kühne und Wagemutige, das darin liegt, Fremdlinge zu Mitbürgern und Gäste zu Hausgenossen zu erklären, wird wohl zu allen Zeiten neu und in manchen Zeiten ganz besonders deutlich, sicherlich auch gerade wieder in unseren Zeiten, in unserer Gegenwart.

Aber – so mag man einwenden – geht es in unserem Abschnitt aus dem Epheserbrief denn nicht doch um mehr: nicht nur um Mitbürger und Hausgenossen, sondern eben ausdrücklich – und jetzt hebe ich die Verkürzung wieder auf – um „Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“? Ja! So steht es ja ausdrücklich da. Nur: Wer auf Gottes weiter Welt und wer von Gottes Geschöpfen sollte davon ausgeschlossen bleiben? Werden Christenmenschen denn Zäune setzen und Grenzen schließen, äußerlich in ihren Worten und ihren Taten – oder innerlich in ihren Gedanken, in ihren Herzen? Ist Christentum exklusiv oder inklusiv, abgrenzend und ausgrenzend oder einladend und aufnehmend? Fangen wir wieder und wieder an und erinnern uns wieder und wieder neu (s.o. Epheser 2, 17): „Und er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren.“ Amen.