Lesepredigt zum Dritten Sonntag nach Trinitatis 2020 (28. Juni 2020)

Von Pfarrer Andreas Strauch

Hesekiel (= Ezechiel) 18, 1-4.21-24.30-32:
1 Und des Herrn Wort geschah zu mir:
2 Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«?
3 So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel.
4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben.
21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben.
22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat.
23 Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?
24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern wegen seines Treubruchs und seiner Sünde, die er getan hat, soll er sterben.
30 Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der Herr. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt.
31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel?
32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod dessen, der sterben müsste, spricht Gott der Herr. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.

Liebe Gemeinde,
Sprichwörter geben Erfahrungen weiter.
Das zitierte Sprichwort von den sauren Trauben, die die Väter essen – und die Kinder bekommen davon stumpfe Zähne – war seinerzeit bekannt und in Umlauf.
In ihm spiegelt sich eine Erfahrung wider, die zeitübergreifend ist.
Wie oft müssen Menschen die Suppe auslöffeln, die andere ihnen eingebrockt haben – so sagen wir in einer Redewendung.
Manchmal ist es uns gar nicht bewusst:
Wir sind – auch – Produkt von Verhältnissen.
Wir sind geprägt.

Das Elternhaus, in dem wir aufgewachsen sind, spielte eine wichtige, schwer zu überschätzende Rolle für unser Leben; das Elternhaus, in dem Kinder aufwachsen, spielt eine wichtige, schwer zu überschätzende Rolle für deren Leben:
für die Bildung,
für die Gesundheit (durch die Ernährung),
für das Selbstbewusstsein (durch Ermutigung, Wertschätzung, Vertrauen, Freiheit, Liebe),
für soziale Kontakte:
Mit welchen Menschen kommen wir zusammen?
Was wird gefördert, was nicht?
Welche Umgangsformen lernen Kinder und Jugendliche, welche Werte? Was haben wir Erwachsene seinerzeit davon gelernt und uns bewahrt?
Wurde/ wird offen geredet im Elternhaus – oder geschwiegen? Konnte etwa die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit mit den Eltern, die diese miterlebt haben, geführt werden – wenn ja: wie konnte sie geführt werden?
Wie wird mit Konflikten, Fehlern, Schuld umgegangen? –
Vieles bekommen wir von zu Hause mit, haben wir dort gelernt, hat Einfluss auf unser Verhalten, Empfinden und Denken.

Aber auch die politischen Verhältnisse prägen Menschen:
In welchem politischen System wächst man auf?
In einer Demokratie, in einer Diktatur? Kennt man von daher Angst oder Widerstand oder Mut oder Feigheit oder Bedrückung oder Freiheit – wie mischt sich das?

Schließlich sind wir auch in unserem Glaubensleben geprägt, auch da fragt sich:
Was haben wir mitbekommen?
Was ist uns wichtig geworden?
Erfahren wir den Glauben eher als einengend oder als befreiend?
Wer hat uns geprägt? Oft sind es Großmütter gewesen. Oder Mitarbeiter der Jugendarbeit. Manchmal auch ein Pfarrer oder eine Pfarrerin.

Also: Wir sind Produkte von Menschen und Verhältnissen – auch.
Und für vieles müssen wir geradestehen, was andere vor uns, mit uns und für uns gemacht oder nicht gemacht haben.

So können wir uns nicht einfach der Versöhnungsarbeit verweigern, nur weil wir Nachgeborene sind. Die Gräuel der NS-Zeit und auch des ersten Weltkrieges legen uns später Lebenden Verpflichtungen auf.

Und wir heute Lebenden müssen auch an unsere Nachgeborenen denken!
Mit unserem Lebenswandel, unserem Umgang mit Ressourcen, unseren Bemühungen zum Artenschutz fallen die Entscheidungen für die Zukunft. Jetzt werden die Weichen gestellt!
Nachfolgende Generationen bekommen hoffentlich keine stumpfen Zähne – wenn wir heute keine sauren Trauben essen!
Nachfolgende Generationen finden die Ergebnisse und Konsequenzen unserer Entscheidungen vor.

Wiederum: Auch kirchlich haben wir erlebt: Zwei bis drei Generationen haben ausgereicht, um einen weitgehenden Traditionsabbruch  entstehen zu lassen, der sich nur ganz langsam wieder auffüllen lässt.

Und doch – ist das alles nicht alles, es ist nur die halbe Wahrheit, weniger sogar.

Die Israeliten dachten auch so, wie es das damals gängige Sprichwort ausdrückt: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ (s.o. Hes./Ez. 18, 2 b)
Sie waren im Exil.
Das waren ihre stumpfen Zähne.
Verursacht von den sauren Trauben der Väter: die ständige Abkehr von Gott.
Hesekiel (in der Luther-Bibel genannt: Ezechiel), der Prophet, der erst im Exil zum Propheten berufen wurde, teilt ihnen den anderen Teil der Wahrheit mit, den größeren: Gottes Wahrheit.
Er setzt das Sprichwort außer Kraft – in gewisser Weise jedenfalls.
Nicht weil es gar nicht stimmt.
Sondern weil man da nicht stehen bleiben soll.
Damals nicht wie heute nicht.
Es gibt nicht nur die Verantwortung der Vorfahren, es gibt auch eine eigene Verantwortung!
Um die geht es.

Jeder Mensch ist für sein Leben selbst verantwortlich.
Jeder Mensch ist dabei unmittelbar zu Gott.
Man kann sich da nicht auf andere berufen oder an andere dranhängen.
Es geht darum, was wir aus unserem Leben machen, wie wir uns zu Gott stellen – heute, unabhängig von den Lasten unserer Vergangenheit, wenn auch unter ihren Bedingungen.

Ja, die Vergangenheit prägt unser Leben – immer, jeden Tag wird unsere Vergangenheit länger und kommen Erfahrungen, eben auch prägende Erfahrungen hinzu.
Aber lähmen, festlegen kann und soll die Vergangenheit uns nicht.
Nicht solange wir leben.
Sonst wären wir wirklich tot.
Wir haben immer noch selber Handlungsspielraum.

Das ist ein Gedanke, der gerade auch evangelischen Christen guttut.

Natürlich betonen wir immer wieder, wie wir von Gott, dem dreieinigen Gott, gefüllt sind, wie wir Gott im Grunde nur machen lassen müssen.
Dass es – vor allem Handeln – das wichtigste ist, sich für Gott offen zu halten: nicht den eigenen Werken das Entscheidende zuzutrauen, sondern Gottes Werken, Gottes Handeln.
Es stimmt und kann gar nicht oft genug gesagt werden.
Paulus und Luther haben es immer wieder erfahren und gesagt.
Das ist evangelische Freiheit.
Freiheit vom Zwang, es selbst richten zu müssen oder zu wollen.
Das ist Evangelium pur!

Und daraus ergibt sich, wie von selbst: Derart von Gott gefüllt, sind wir nun auch in der Lage, selbst etwas zu tun.
Aus dem Empfangen folgt Kraft, Können!
„Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist.“ (s.o. Hes./Ez. 18, 31 a)
Tatsächlich!
Dazu werden die Hörenden des prophetischen Wortes aufgefordert, befähigt, ermutigt, ermächtigt!
Auch wir?

Ja, die Vergangenheit muss und soll uns nicht lähmen und festnageln.
„Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben …“ (s.o. Hes./Ez. 18, 22)
Immer wieder ist Neuanfang möglich – freilich unter den Bedingungen und Prägungen der Vergangenheit.
Sie können stark sein, aber solange wir noch Kraft zum Atmen haben, solange wir noch leben, können wir jeden Tag neu entscheiden,
wie wir unser Leben gestalten,
wie wir unsere Kraft und unsere Zeit einsetzen und wem wir sie zugutekommen lassen,
wie wir mit unseren Fehlern umgehen – und denen anderer,
wie wir uns zu Gott stellen,
wie wir seine Gebote – Angebote zur Freiheit und zu einem guten, von Liebe geprägten Leben – nutzen; sie gipfeln im Gebot der Gottes-, der Nächsten-, der Selbstliebe, keines ohne das andere, alles miteinander.
Es wird uns auch etwas zugetraut und zugemutet.

Jeden Tag können und müssen wir das neu entscheiden.
Nicht einmal.
Man kann sich einmal entscheiden.
Aber jeden Tag will das umgesetzt und gelebt werden.
Daher ist auch Bekehrung nichts Einmaliges, sondern immer neue Hinwendung zu Gott.
Und Umkehr ist nicht ein ständiges Vor und Zurück, sondern eine immer neue Orientierung am Lebenswillen und Lebensangebot Gottes für uns – mit dem Blick der Liebe auch für unsere Vorfahren, die uns geprägt haben, und mit dem Blick der Liebe auch für unsere Kinder, Enkel, Urenkel und die Generationen, die wir nicht mehr persönlich erleben und kennen lernen werden.
Auch sie wollen leben.
Machen wir Heutigen es ihnen nicht zu schwer und engen sie nicht ein in ihren Möglichkeiten.
Gott will unser Leben – ganz gewiss.
Das Leben der Menschheit, der Tiere und der Pflanzen, das Leben seiner ganzen Schöpfung, seiner Welt in den Jahrhunderten und Jahrtausenden.
Ergreifen wir Gottes Lebenswillen dankbar und beherzt.
Wenden wir uns erneut zu Gott hin, der Quelle unseres Lebens, der wir uns täglich verdanken. – Amen.

Lesepredigt zum 3. Sonntag nach Trinitatis (28. Juni 2020)

von Pfr. Ralf Arnd Blecker.

Er hat zwei Seiten, liebe Leserin, lieber Leser!

Zunächst die eine: Er ist ein knallharter Kritiker.

Er kritisiert zum Beispiel den Immobilienmarkt:

Weil sie die Macht haben, begehren sie Äcker und nehmen sie weg, Häuser und reißen sie an sich. So treiben sie Gewalt.“

Er beklagt: die Mächtigen beuten die einfachen Leute aus:

Sie hassen das Gute und lieben das Arge; sie schinden ihnen die Haut ab und das Fleisch von ihren Knochen und fressen das Fleisch meines Volks.“

Und er prangert Korruption an und puren Eigennutz:

Die frommen Leute sind weg in diesem Lande, und die Gerechten sind nicht mehr unter den Leuten. Sie lauern alle auf Blut, ein jeder jagt den andern, dass er ihn fange. … Obere und Richter fordern Geschenke.“

Die Rede ist vom Propheten Micha, einem Zeitgenossen Jesajas.

Ich habe im Präsens formuliert, aber der Prophet Micha lebte vor 2.700 Jahren im heutigen Israel.

Man vermutet, er war ein armer Bauer oder ein Landarbeiter, vielleicht aber auch ein kleiner dörflicher Grundbesitzer. Michas Worte aus einer längst vergangenen Zeit werden merkwürdigerweise auch heute verstanden.

Seine Kritik am Häuser-an-sich-reißen verstehen heutige Geringverdiener gut, wenn sie in München, Bremen, Hamburg oder in Berlin eine bezahlbare Wohnung suchen. Die Kritik an der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft – man versteht sie auch heute. Nicht nur als osteuropäischer Arbeiter in einem deutschen Schlachthof.

Und dass der eine versucht, den andern zu übervorteilen – auch das verstehen Menschen 2.700 Jahre nach Micha.

Das war nun die eine Seite des Propheten Micha, die knallharte Sozialkritik.

Gleichzeitig jedoch ist er ein großer Visionär.

Eine Vision kennen Sie bestimmt:

„Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter Tausenden in Juda, aus dir soll mit der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.“ (Micha 5)

Diese Weissagung Michas hören die Weisen aus dem Morgenland und machen sich auf, um den Heiland der Welt als Kind armer Leute in einer Krippe im letzten Winkel der damals bekannten Welt zu finden.

Ähnlich bekannt ist Michas Vision eines göttlichen Friedens, in dem ab- und umgerüstet wird:

„Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“ (Micha 4,3-4)

Und es ist schon erstaunlich: Der Prophet Micha lieferte das Motto für die DDR-Friedensbewegung in den 70er Jahren, das dann auch von der westdeutschen Friedensbewegung   übernommen wurde: Schwerter zu Pflugscharen!

Hier haben wir die andere Seite von Micha, die visionäre. Zur visionären Seite gehört auch der Schluss des Buches Micha.

Und hierher gehört der Predigttext, den unsere Perikopenordnung für den 3. Sonntag nach Trinitatis (28. Juni 2020) vorsieht::

„Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.“ (Micha 7,18-20)

In einer besonderen Weise stellt Gott sich hier vor. Nicht als der Mächtige, der Allmächtige – wie zum Beispiel im 2. Buch Mose:

Wer ist dir gleich unter den Göttern? Wer ist dir gleich, der so herrlich und heilig ist, schrecklich … und wundertätig?“ (2. Mose 15,11)

Gott stellt sich auch nicht als einer, der Stärke verleiht wie zum Beispiel im Psalm:

„Wo ist ein Gott außer dem HERRn oder ein Fels außer unserm Gott? Gott rüstet mich mit Kraft.“ (Ps. 18,32)

Nein, hier am Ende des Micha-Buches, stellt Gott sich anders vor.

Barmherzig ist dieser Gott.

Und er vergibt.

Vergibt Sünde und Schuld.

Wie die Allmacht ist auch die Barmherzigkeit biblische Tradition:

„Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte.“ (aus Ps. 103, dem Wochenpsalm )

Und auch Mose wusste bereits von diesem vergebenden Gott:

„HERR, HERR Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue. Der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied.“ (2. Mose 34)

Selbst das zuletzt Genannte wäre Gnade. Und Barmherzigkeit. Und Vergebung: Wenn die Sünden unserer Generation bereits in drei oder vier Generationen wieder getilgt wären. Und die Meere wieder frei wären von Mikroplastik, die Erderwärmung gestoppt und der Ausstoß von Schadstoffen massiv gesenkt wären.

Aber wo ist solch ein Gott, der die Sünde vergibt, der die Schuld erlässt und sich erbarmt?

Wo ist dieser barmherzige, gnädige, geduldige und gütige Gott?

An diesen Gott der Gnade und Barmherzigkeit, der uns viele Jahrhunderte nach Micha in Jesus begegnet, scheint kaum jemand zu glauben.

Vielleicht, weil die Menschen am liebsten selber mächtig sind und am allerliebsten allmächtig.

Und keine Gnade walten lassen, geschweige denn Barmherzigkeit, vor allem, wenn´s um Geld geht, um den Gewinn.

Was immer geht, wird gemacht und so viel aus Mensch und Kreatur herausgepresst, wie irgend möglich.

Ein barmherziger und gnädiger Gott – der störte nur.

Er störte nicht allein die Geschäfte.

Auch die Gefühle würde er durcheinanderbringen: die Rache-Gefühle zum Beispiel, in denen man so wunderbar baden kann.

Und die Vergeltungsphantasien wie „Das zahle ich dir heim!“

„Lobe den HERRn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Barmherzigkeit.“ (Ps. 103)

Wenn ich mich – sei es betend, sei es singend – in diesen barmherzigen Glauben hineinschwinge, dann spüre ich, dass ich Gutes empfange; dass ich mir zwar meine Brötchen verdient habe, mein Leben mir aber nicht selbst verdient habe.

Ein barmherziger Gott hat mich „geschaffen … samt allen Kreaturen“, hat „mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben… Und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit.“ ( Martin Luther, Der Kleine Katechismus, Das Zweite Hauptstück, EG 806.2 )

Wer so zu glauben versucht, muss über die eignen Allmachtsgelüste lächeln.

Und wird – zwangsläufig fast! – selber barmherzig und lässt die Rache- und Vergeltungsphantasien dahinfahren.

Und erkennt, wie viel Vergebung er oder sie selber nötig hat.

Wer an den Gott der Bibel glaubt, der barmherzig und gnädig ist wie der Vater in Jesu Gleichnis vom verlorenen Sohn, wird selber Gnade walten lassen gegenüber Mensch und Kreatur, selbst wenn es ums Geld geht.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“, empfahl Jesus. (Lk 6,36)

Und: „Vergebt, so wird euch vergeben.

Das gelingt – spielend, behaupte ich, wenn ich meine Seele Gott loben lasse und so nicht vergesse, was er mir Gutes getan hat. Amen.

Gebet:

Ach Gott, Vater im Himmel, zu dir dürfen alle kommen, Gute und Böse, Gerechte und Ungerechte. Ach Gott, lehre uns:die Augen aufmachen, hinsehen, wahrnehmen. Mach uns empfindsam für dich, für andere und für uns selbst. Lass uns neue Menschen werden, Glaubende, Vertrauende. Hoffende. Dies bitten wir dich in Jesu Namen. Amen.

Wochenspruch:

Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. (Lukas 19, 10)


Wochenlied zum Mitsingen (2 Youtube-Links):

Ev. Gesangbuch (EG) Nr. 353: „Jesus nimmt die Sünder an

Lesepredigt zum Zweiten Sonntag nach Trinitatis 2020 (21. Juni 2020)

Von Pfarrer Andreas Strauch

Epistel zum Zweiten Sonntag nach Trinitatis: Epheser 2, 17-22:
17 Und er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren.
18 Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater.
19 So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen,
20 erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist,
21 auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn.
22 Durch ihn werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.

Liebe Gemeinde, die ‚Fernen‘ und die ‚Nahen‘ – wer sind sie, wer waren sie?
Damals waren gemeint: Christenmenschen unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlicher Vergangenheit und unterschiedlichen Traditionen. Dies hatte den Unterschied gemacht: nah oder fern!
Zwei Hauptgruppen gab es: die Judenchristen und -christinnen sowie die Heidenchristen und -christinnen. Für beide Gruppen von Christenmenschen war es noch recht neu, nun Christenmenschen zu sein, in christlichen Gemeinden zu leben – dieses Gefühl und Bewusstsein des Neuen hatten beide Gruppen und verband beide Gruppen.
Aber: Die einen waren eben doch eher und stärker „fern“. Das waren die Heidenchristen. Ihr religiöser Weg, den sie zurückgelegt hatten, war länger. Sie hatten vorher zu dem Gott Israels keine Beziehung gehabt. Es war nicht ihr Gott gewesen, den sie angebetet und verehrt hatten. Sie hatten andere Götter – ja: Mehrzahl! – z.B. Fruchtbarkeitsgötter oder Sterne, Gottheiten der Antike. Ihnen galten ihre Verehrung und ihre Gebete. Christenmenschen mit dieser religiösen Vergangenheit waren „Heiden“, „Völker“ gewesen, was keineswegs abwertend gemeint war. Der Gott Israels wurde mit ihrem neuen Bekenntnis und ihrer Hinwendung zum Christentum auch ihr Gott, ihr Vater-Gott, Vater Jesu Christi.
Im Vergleich zu den Heidenchristen war der Weg dagegen, den die Judenchristen zurückgelegt hatten, als sie Christenmenschen wurden, kürzer – sie waren eher „nahe“. Der Gott nämlich, den sie immer schon angebetet und verehrt hatten, den Gott Israels, den Gott Abrahams, Jakobs, Josefs, diesen Gott beteten sie weiterhin an, ihm galt weiterhin ihre Verehrung, war er doch der Vater Jesu Christi, zu dem sie sich nun als Christen bekannten.

Interessant nun und keineswegs zufällig oder austauschbar: Der Apostel spricht eine der beiden Gruppen direkt an. Seine Worte richten sich direkt an diejenigen, „die ihr fern wart“ (s.o. in Epheser 2, 17), also an die Heidenchristinnen und Heidenchristen. Die bedürfen der persönlichen Ansprache, des unmittelbaren Zuspruchs. Sie sind hinzugekommen – von weiter her, von weit her. Sie brauchen Ermutigung. Fremdeln sie noch ein wenig?

Die Botschaft des Apostels an sie: „Ihr gehört dazu“!

Die Heidenchristen und Heidenchristinnen sollen vernehmen und verinnerlichen: Sie sind nicht mehr „Gäste“. In diesem Wort klingt und schwingt schon im Griechischen mit, was dann mit einem anderen Wort auch ausdrücklich ausgesprochen wird: „Fremdlinge“. Beides sind sie aber nicht, nicht mehr.
Ein Gast ist fremd. Deswegen ist man ja gut zum Gast. Weil er sich nicht auskennt, womöglich alleine nicht so gut zurechtkommt. Als Gast wird man – so soll es sein, so ist es guter Brauch, ja ungeschriebenes Gesetz – Gastrecht! – als Gast also wird man gut behandelt. Zuvorkommend und aufmerksam. An nichts soll es fehlen. Wie zuhause soll sich der Gast fühlen. Der Gast ist aber eben nicht zuhause. Er ist fremd. Entsprechend ist der Gast höflich, vorsichtig, behutsam – vielleicht sogar ein bissen (über)angepasst. Vielleicht auch etwas unsicher. Es ist nicht eigenes Terrain, auf dem der Gast sich bewegt.

Das hat ein Ende! Das ist die klare und unmissverständliche Botschaft des Apostels an die Heidenchristinnen und Heidenchristen: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (s.o. Epheser 2, 19). Daheim in Stadt und Haus. Daheim in der Kirche und in der Gemeinde Jesu Christi. Da gibt es keine Unterschiede zu den Judenchristinnen und Judenchristen. Die Unterschiede des Herkommens und der Vergangenheit spielen da keine Rolle. Sie haben keinen Belang. Sie sind zwar im Gedächtnis aufgrund der unterschiedlichen Lebens- und Glaubenserfahrungen, natürlich! Aber beide Gruppen haben nun doch denselben Gott, einen Gott. Und Christus „hat im Evangelium Frieden verkündigt“ (s.o. in Epheser 2, 17). Euch und ihnen. Euch, den Heidenchristinnen und Heidenchristen, und ihnen, den Judenchristen und Judenchristinnen. Beiden. Das verbindet und zählt mehr als die alten Unterschiede. „Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater.“ (s.o. Epheser 2, 18) Der dreieinige Gott verbindet seine Gemeindeglieder untereinander und mit sich und hält seine Gemeinde und seine Kirche zusammen.

Die ‚Fernen‘ und die ‚Nahen‘ – wer sind sie heute? Ich meine, wir können von den Worten des Apostels lernen, das Denken und manchmal auch Urteilen in solchen Kategorien aufzugeben. Die Unterscheidung fern – nah ist, was Christenmenschen betrifft, hinfällig geworden, sie ist überholt, sie ist nicht sachgerecht:
Wenn man von ‚Kerngemeinde‘ spricht, denjenigen, die sich engagieren, die im Gottesdienst sind, die am Leben anderer interessiert sind, die mitdenken, die zupacken und mithelfen, offensichtlich oder im Verborgenen, wenn man also von der ‚Kerngemeinde‘ spricht und diese nicht eng begrenzt, dann meint man damit Menschen, für die jede Gemeinde dankbar sein kann, darf und soll. Auch in diesen Personengruppen gibt es schon erhebliche Unterschiede, was Vergangenheit und Herkommen betrifft. Manche sind religiös-kirchlich aufgewachsen, waren z.B. im Kindergottesdienst, kennen Gebete vorm Einschlafen oder am Tisch, manche bekommen näheren und nachhaltigen Kontakt zur Kirchengemeinde in der Konfi-Zeit oder in der Jugendarbeit, manche später als Erwachsene, als Konfi-Eltern beispielsweise oder wenn wie an einer Aufgabe, z.B. im Kirchenvorstand oder einem seiner Ausschüsse, Interesse und Erfüllung in ihr finden. Oder wenn sie einen neuen Zugang zum Gottesdienst bekommen, weil sie dort für sich Lebens- und Glaubenshilfe, Orientierung und Stärkung erfahren – durch die Gemeinschaft der versammelten Gemeinde, durch Musik und Lieder, durch die Andacht, durch die Texte der Bibel, der Gebete, der Predigt. Oder sie haben Zugang und Heimat in einem Chor der Gemeinde gefunden.
Wer aber seinen Glauben anders lebt, zurückhaltender, weniger sichtbar und öffentlich, weil ihm oder ihr das vom Naturell her eher liegt oder auch weil man gar keine anderen Möglichkeiten hat als alter Mensch oder als im Beruf oder in der Familie stark beschäftigter Mensch – ist deswegen noch lange nicht fern.

Diese Unterscheidung hat der Apostel schon hinter sich gelassen: „die ihr fern wart“, „die nahe waren“ (beide Male Vergangenheit! – s.o. Epheser 2, 17). Diese überwundene Unterscheidung taugt nicht, um Wertungen oder Rangfolgen vorzunehmen. Wie nahe oder ferne jemand zu oder von Gott steht, ist unseren Blicken, unserer Einsicht entzogen – und daher auch unseren Bewertungen und Urteilen.

Durch die Taufe sind wir mit Christus verbunden, weil sich Christus mit uns verbunden hat – ein für alle Male – und im Abendmahl stärkt Jesus Christus unser Bewusstsein für die Verbindung mit ihm und die Verbindung untereinander. Er erinnert uns daran, dass er Frieden verkündigt, ja der Friede ist. In der Taufe werden Menschen Christenmenschen, denn Christus bekennt sich zu ihnen. Im Abendmahl erfahren, schmecken und sehen wir den Frieden Christi immer neu als Grund, als Wahrheit, als Ziel unseres Lebens. So verstehe ich das Abendmahl auch nicht exklusiv, sondern inklusiv, nicht ausschließend, sondern einschließend, zusammenführend, zusammenhaltend. Die Dazugehörigkeit, die Zusammengehörigkeit aller Christenmenschen kann im Abendmahl exemplarisch dargestellt und erlebt und gesehen werden. Diese Kraft trägt es in sich. Es ist die Kraft Christi.

Das Leben der Gemeinde fasst der Apostel in das Bild vom Bau, das er detailliert zeichnet (s.o. Epheser 2, 20.21): Der Grund sind die Apostel und Propheten, der Eckstein ist Jesus Christus. Der Bau ist ineinandergefügt und wächst so „zu einem heiligen Tempel in dem Herrn.“ (s.o. Epheser 2, 21) Und er spricht seiner Gemeinde, in der der Unterschied von Fernen und Nahen ja schon überwunden und aufgehoben ist, zu: „Durch ihn (= den Herrn) werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.“ (s.o. Epheser 2, 22)

Wir sagen manchmal: Das hat mich aufgebaut. Das meint auch: aufgerichtet. Die Richtung geht nach oben. Es geht aufwärts. Man steht wieder aufrecht, gerade. Man ist wieder selbstbewusst.
Wir sind nicht fertig. Auch an einem Menschen kann ‚gebaut‘ werden. Auch an einer Gemeinde. Wird man, ist man aufgebaut, aufgerichtet, wachsen wir nach oben – im Bild: zum Himmel. Wir wachsen zu Gott.

So weisen auch Kirchenbauten nach oben. Durch den Turm, durch die Gewölbe. Gerade an unserer Haigerer Stadtkirche kann man das schön sehen: wie sich ein Bau entwickelt, wie zum Alten Neues hinzukommt. Wie der Blick zum Himmel freigegeben wird. Wie den Menschen geholfen wird, um Gottes Wort (vermittelt durch die „Apostel und Propheten“ (s.o. Epheser 2, 20) – in der Lesepredigt vom letzten Sonntag war die Rede von „Mose und den Propheten“ (s. Lukas 16, 29+31) – von ihnen abgelauscht und weitergesagt) zu vernehmen.
Vieles in der Baugeschichte ist auch Frömmigkeitsgeschichte. Manches ist aktuell geblieben. Z.B., dass eine Kirche Schutz bietet: Geborgenheit, Behausung – eben: für „Gottes Hausgenossen“ (s.o. Epheser 2, 19). Dann: der Turm als Wehrturm, der auch für die Gewährung des Schutzes ‚von oben‘ steht. Weiter: Die Gewölbe: gedrungen – in der Zeit der Romanik, noch im Mittelalter, auch sie: schutzbietend. Später – in der Zeit der Gotik – wurde der Chorraum angebaut. Die Fenster dort sind eher spitz, schmal. Dadurch wirken sie hoch, zum Himmel weisend. Wie überhaupt die Gemälde im Chorraum den Blick in den Himmel freigeben sollen: den Blick ins himmlische Jerusalem, den Blick zu Christus, dem Weltenrichter. Die Bilder hatten (und haben?) auch eine warnende und mahnende Funktion. Dann entfernte man die Bilder, indem man sie übertünchte. Die Kirche war evangelisch geworden – zuerst lutherisch, dann reformiert, später uniert. Jetzt, gerade da, ging es um die völlige Konzentration auf das gesprochene Wort. Die Bilderpredigt wurde abgelöst durch die auf Deutsch gehaltene Predigtrede. Die Kanzel wurde angebracht – mit dem Schalldeckel über ihr, die den Klang der Stimme zu den Ohren und Herzen lenken sollte. Aber auch der Inhalt der Predigten hat sich gewandelt, auch die Theologie. Der Gedanke des Gerichts, das Strafe und Verdammung nach sich ziehen konnte, wovor eben die überstrichenen Bilder drastisch warnten, wurde überführt in ein Verständnis der Gnade Gottes, an der alles liegt und auf die im Glauben an Christus gesetzt werden darf. Der Glaube zählt, nicht das unerreichbare tadellose Leben. Anfang des letzten Jahrhunderts – vor 115 Jahren – wurden die wieder entdeckten Bilder freigelegt. Wir sehen wieder die Passionsgeschichte, Jesu Leidenskampf, seine Hingabe für uns. Wie sehen, zu welcher Grausamkeit Menschen fähig sind. Wir sehen die Apostel, die Gottes Wort verkündigt und weitergetragen haben und dafür gelitten haben. Wir sehen und wir hören. Wir hören Gottes Wort: Gottes Liebe, Gottes Frieden. Sehen und Hören ergänzen sich, schließen sich nicht mehr aus.

Liebe Gemeinde, der Abschnitt aus dem Epheserbrief spricht Christenmenschen an und ist an Christenmenschen gerichtet. Aber er weitet doch den Blick und öffnet Ohren. Die Unterscheidung von ‚Fernen‘ und ‚Nahen‘ in der Gemeinde hat keine sachliche Grundlage mehr. Aber wenn wir die Augen und Ohren offenhalten und wenn wir hinaussehen aus unseren Kirchen und Häusern in die Straßen unserer Dörfer und Städte und dabei hinhören, und wenn wir mit Hilfe von Fernsehen und anderer Nachrichtenmedien in die Welt – ins nahe und ins ferne Ausland – schauen und hinhören, was wir von dort erfahren: Wie verhalten wir uns gegenüber Menschen, die wir als ‚fern‘, als ‚fremd‘ empfinden – in unseren Einstellungen und unseren Taten, in unseren Worten über sie und unseren Worten zu ihnen?
Gegenüber wem kommt uns der Satz aus dem Epheserbrief (2,19), hier etwas verkürzt, über die Lippen: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger … und … Hausgenossen“?
Oder wie klingt folgender Satz in der heutigen Zeit in Deutschland gesprochen, einem der reichsten Länder der Welt, das bisher auch vergleichsweise glimpflich durch die schwere Krise der letzten Monate gekommen ist, ein Satz aus dem alttestamentlichen Lesungstext für den heutigen Sonntag: „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!“ (Jesaja 55, 1)
Und wie schließlich klingt der Wochenspruch für den heutigen Sonntag, ein nur vom Evangelisten Matthäus überliefertes Wort Jesu: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ (Matthäus 11, 28)
Die Sprengkraft und die Wucht solcher Worte, das Kühne und Wagemutige, das darin liegt, Fremdlinge zu Mitbürgern und Gäste zu Hausgenossen zu erklären, wird wohl zu allen Zeiten neu und in manchen Zeiten ganz besonders deutlich, sicherlich auch gerade wieder in unseren Zeiten, in unserer Gegenwart.

Aber – so mag man einwenden – geht es in unserem Abschnitt aus dem Epheserbrief denn nicht doch um mehr: nicht nur um Mitbürger und Hausgenossen, sondern eben ausdrücklich – und jetzt hebe ich die Verkürzung wieder auf – um „Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“? Ja! So steht es ja ausdrücklich da. Nur: Wer auf Gottes weiter Welt und wer von Gottes Geschöpfen sollte davon ausgeschlossen bleiben? Werden Christenmenschen denn Zäune setzen und Grenzen schließen, äußerlich in ihren Worten und ihren Taten – oder innerlich in ihren Gedanken, in ihren Herzen? Ist Christentum exklusiv oder inklusiv, abgrenzend und ausgrenzend oder einladend und aufnehmend? Fangen wir wieder und wieder an und erinnern uns wieder und wieder neu (s.o. Epheser 2, 17): „Und er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren.“ Amen.

Psalmen singen und meditieren – Psalm 119 III (3. Woche nach Trinitatis)

Zwischen Pfingsten und dem Ende des Kirchenjahres sind es in diesem Jahr genau 22 Sonntage. Das bietet die Möglichkeit, jede Woche eine der 22 Strophen von Psalm 119 – entlang den 22 Buchtstaben des hebräischen Alphabets, Alef bis Taw – zu singen und zu meditieren. Der Psalm besingt immer wieder neu die Tora, die Weisung Gottes. Den Strophen von Psalm 119 stellen wir 22 Abschnitte der Weisung der Bergpredigt aus dem Matthäusevangelium zur Seite. Über Psalm 119 sagt Martin Luther, er sei „ein geistlich göttlich Spiel, das man täglich üben soll“. Das gilt ganz bestimmt genauso für die Bergpredigt. Die Psalmen erklingen in der Weise der Responsorialen Psalmodie, des Psalmodierens mit einem Antwortruf. Ein Ruf – ein Herzwort des Psalms – wird immer wieder wiederholt, verinnerlicht, meditiert. Die Übersetzung der Psalmen folgt dem „Münsterschwarzacher Psalter“. Die „Preisungen – Psalmen mit Antwortrufen“ und „Cantica – Biblische Gesänge mit Antwortrufen“ sind im Vier-Türme-Verlag Münsterschwarzach erschienen (www.vier-tuerme-verlag.de). Die Bergpredigt erklingt in der Übertragung von Walter Jens (Die vier Evangelien, Radius-Verlag Stuttgart 2003). Es liest Reiner Unglaub (www.reiner-unglaub.de). Das Bild zum Psalmvers „Säßen auch gegen mich Fürsten zu Rate – dein Knecht sinnt über deine Gesetze nach.“ ist dem „Stuttgarter Psalter“ entnommen, einer Psalterhandschrift vom Anfang des 9. Jahrhunderts, die heute in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart aufbewahrt wird. www.stillezeiten.de

Psalm 119 II ist zum Mitsingen und Meditieren online

Im Psalm folgen die Strophen den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets. Die erste Strophe preist mit ALEF – dem unaussprechlichen Konsonant, dem Ton vor dem Ton – den Menschen selig, der sich auf den Weg der Tora begibt. Die zweite Strophe eröffnet mit BET – dem „Haus“ – den Raum des Segens (BERACHA), ein Zuhause für die, die sich daran erinnern, wer das Haus gebaut hat.  

  Verlasst euch nicht auf Wunder, sondern rezitiert Psalmen. (Chassidische Weisheit)

Lesepredigt zum Ersten Sonntag nach Trinitatis 2020

Von Pfarrer Andreas Strauch

Evangelium zum Esten Sonntag nach Trinitatis: Lukas 16, 19-31:
Vom reichen Mann und armen Lazarus
19 Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden.
20 Ein Armer aber mit Namen Lazarus lag vor seiner Tür, der war voll von Geschwüren
21 und begehrte sich zu sättigen von dem, was von des Reichen Tisch fiel, doch kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren.
22 Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.
23 Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß.
24 Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme.
25 Abraham aber sprach: Gedenke, Kind, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein.
26 Und in all dem besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.
27 Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus;
28 denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.
29 Abraham aber sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören.
30 Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun.
31 Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.

Liebe Gemeinde, eine harte Geschichte ist das. Harte, schroffe, wie es scheint, unüberwindliche Gegensätze sehen wir.
Hier der Reiche, da der Arme.
In unmittelbarer Nähe.
Zwei Parallelwelten, die nichts miteinander zu tun haben.
Oder doch?

Natürlich haben Reich und Arm etwas miteinander zu tun.
Das kritisiert die Geschichte ja: die Blindheit von Menschen, denen es gut oder sehr gut geht, gegenüber Menschen, denen es schlecht oder sehr schlecht geht.
Die Geschichte lehrt: Hinsehen und Hinhören.

Der reiche Mann hat interessanterweise keinen Namen – jedenfalls erfahren wir ihn nicht. Er scheint typisch zu stehen für Menschen, denen es überdurchschnittlich, über die Maßen gut geht. Purpur und kostbare Leinen sind teure Stoffe – für Könige.

Für ‚normale‘ Menschen ist ein Fest eine Unterbrechung des Alltags: herausgehoben aus diesem. Da kleidet man sich schön und isst gut und reichlich. Anders, mehr und besser als sonst. Aber das Fest ist kein Fest, wenn es sich vom Alltag nicht unterscheidet. Das Leben ist kein Fest. Das Leben ist keine Dauerparty.

Der Reiche scheint es aber so halten zu können. Er „lebte alle Tage herrlich und in Freuden.“ (s.o.: Lukas 16, 19) Das klingt nicht nach stiller Bescheidenheit. Keine Niederungen trüben sein Leben.
Es wird übrigens nicht gesagt, dass er Leute ausbeutet, betrügt, bestiehlt.
Andererseits wird auch nicht gesagt oder gefragt, wo der übermäßige Reichtum eigentlich herkommt.

Das wird manchmal nicht so genau gefragt und betrachtet.
Wenige Prozent der Menschheit haben einen hohen Prozentsatz des Gesamtvermögens in ihrer Hand. Das ist schon bei uns in Deutschland so. In etlichen Ländern, z.B. in Lateinamerika, ist die Diskrepanz noch viel extremer. Den viel kleineren Rest teilen sich die vielen, die meisten anderen Menschen.

Damals, als diese Geschichte erzählt wurde, hat eine Oberschicht ihren Reichtum stetig vermehren können: Man gab den Armen Kredite, die sie nicht abbezahlen konnten, und nahm ihnen dann ihr Land ab. Soziale Sicherungssysteme gab es nicht.

Doch, eine Niederung hätte die Freuden des Reichen trüben können: der Arme vor seiner Tür.
Armut ist konkret. Armut hat einen Namen. Hier heißt der arme Mann: Lazarus, übersetzt: ‚Gott hilft‘.

Sonst hilft ihm keiner. Völlig unten, heruntergekommen war er: mit Geschwüren bedeckt, unansehnlich also – wer schaut da gerne hin? Aber Wegschauen geht ja auch nicht. Oder doch? Lazarus scheint gelähmt zu sein und vor des Reichen Tür zu wohnen: liegend, wehrlos den streunenden Hunden ausgeliefert, die obendrein als unrein galten. Die Essensreste, von denen er sich nähren wollte, waren – das geht aus dem griechischen Urtext hervor – Brotreste, mit denen sich die Gastteilnehmer (die Partygäste) in des Reichen Haus die Hände reinigten, um sie dann auf den Boden zu werfen. Nicht mal die erlangte der arme Lazarus.

Ich stelle mir die Situation vor, wenn der Reiche sein Haus verließ, und frage mich, wie oder ob überhaupt er den Armen wahrgenommen hat. Und wie war es, wenn er zurückkehrte? Hat der Reiche – beim Gehen, beim Kommen – den Armen gegrüßt? Hat er ihm jedenfalls zugenickt, ihn eines Blickes gewürdigt? Man kann sich’s nicht recht vorstellen. Ein Gruß, ein Nicken, ein Blickkontakt hätte ja Emotionen in dem Reichen, ja sogar in beiden, auch in dem Armen, auslösen müssen. Und hätten die nicht doch auf Dauer auch Folgen haben müssen, jedenfalls können? Hätte nicht dem Grüßen, Zunicken, Anschauen mit der Zeit mehr folgen müssen, jedenfalls können: Worte, Gaben, Hilfen?

Die Lage ist insgesamt so beschrieben, dass es sich nicht um ein einmaliges Ereignis, sondern um eine Art Dauerzustand gehandelt hat. Der Reiche hat ja offensichtlich keinen Änderungsbedarf – kein Interesse an irgendeinem Ausgleich, selbst wenn der ihm noch lange nicht wehtun müsste. Und der arme Lazarus hat nicht die Kraft und nicht die Mittel dazu. So ist der Zustand zementiert.

Arme Menschen, arme Länder, arme Regionen brauchen Hilfe zur Selbsthilfe, damit sie unabhängig werden und bleiben und für sich selbst sorgen und einstehen können. Die Brotkrümel können das nicht bewirken, aber immerhin: ein bisschen satt für den Moment wäre der arme Lazarus geworden. Ein Anfang wäre das gewesen, ein bescheidener, aber immerhin!

Spätestens in der Fortsetzung merken wir, dass diese Begebenheit, so real sie klingt und hundert-, tausend-, vielmillionenfach vorkommt, jetzt nicht real weitererzählt wird.
Wer ist eigentlich der Erzähler?

Jesus konfrontiert die Pharisäer mit den Folgen des Wegsehens und Weghörens. Kurz zuvor spricht Lukas so von den Pharisäern und ihren Umgang mit Jesus: „die Pharisäer, die am Geld hingen, und sie spotteten über ihn.“ (Lukas, 16, 14)

Jesus führt die Pharisäer – und die Lesenden und Hörenden heute, also auch uns – nun in eine Szene, die wunderhaft-märchenhaft ausgemalt ist und deren Dialog wahrhaftig zu denken gibt. Weiterhin gilt: Die Geschichte ist hart, sie soll aufrütteln. Sie lehrt Hinsehen und Hinhören, wo Menschen in der der Gefahr stehen, wegzuschauen und wegzuhören.

Beide, der Reiche und der arme Lazarus, sterben – aber wie unterschiedlich wird von ihnen erzählt: Der Arme wird von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Interessanterweise wird sein Name hier nicht mehr erwähnt. Steht nun auch er, steht, was ihm jetzt offenbar widerfährt – Seligkeit, Geborgenheit bei Gott – typisch für arme Menschen? Wie dem auch sei: Er ist – das klingt an – bei Gott im Paradies. Dort wird er gewiss nicht mehr darben müssen. Vom Reichen wird erzählt, dass er „begraben“ wird – der Arme scheint direkt bei Gott zu sein – der Reiche leidet Höllenqualen, von Hitze („Flamme“) und Durst („Pein“) ist die Rede (s.o. Lukas 16, 24).

Ein merkwürdiges Bild! Seine Hölle ermöglicht dem Reichen das Sehen. Den Armen, den er seinerzeit augenscheinlich ignoriert und übersehen hatte – jetzt, wo dieser bei Gott ist, nimmt er ihn wahr. Jetzt erst!

Aber der Arme ist dem Reichen nur Mittel zum Zweck. Das Gefälle bleibt. Mit Abraham spricht er, der Reiche. Der Arme – immerhin dessen Namen Lazarus nennt der Reiche! – soll ihm dienen: Lazarus‘ Fingerspitze mit Wasser zur Kühlung an seine, des Reichen, Zunge! – Zu beider Lebzeiten waren die Essensreste im Haus des Reichen geblieben!

Abraham reagiert kühl, unmissverständlich, hart: „Abraham aber sprach: Gedenke, Kind, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein. Und in all dem besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.“ (s.o. Lukas 16, 25.26)

Die Kluft, die den Reichen und den Armen stets getrennt hat, bleibt bestehen.
Der Reiche hatte sie zu Lebzeiten nicht überwunden – nur er hätte es gekonnt, der arme Lazarus nicht! – jetzt ist sie unüberbrückbar geworden.
Der Reiche hatte dem Armen nicht helfen wollen.
Der Arme kann, soll, darf dem Reichen jetzt auch nicht helfen!?
Ist das Ausgleichende Gerechtigkeit?
Ist das Vertröstung für Arme auf dieser Erde, in diesem Leben, auf eine bessere Zukunft, die sie aber nicht mehr auf der Erde erleben werden?
Oft ist dem Christentum, der Religion überhaupt, dies vorgeworfen worden: sie vertröste nur und helfe nicht den Menschen aus Armut, Elend und Not!?

Und für den Reichen – gibt es keinen Ausweg!

Das Mahnende und Unerbittliche an der Geschichte ist:
Sie erinnert uns daran: Unsere Taten und unsere Unterlassungen haben Folgen! Nicht alles lässt sich zurücknehmen und nachholen.
Jedes Leben kann nur einmal gelebt werden. Jeder Tag kann nur einmal gelebt werden.
Dies kann eine sehr bittere Erfahrung sein!

Ich persönlich möchte Gott nicht darauf festlegen. Ich traue Gott mehr Möglichkeiten zu als menschlicher Gerechtigkeitssinn im Blick haben mag. Aber dem Ernst und der Klarheit dieser Geschichte kann und will ich mich nicht entziehen!

Wir können unser Heil bestimmt nicht selbst erwirken oder herbeiführen. Aber es gibt schon hilfreiche, weiterführende, wegweisende, lebensförderliche Unterscheidungen!
Schon das eigene Gewissen gibt uns die grobe Richtung an, was gut zu tun und gut zu lassen ist.
Auch unser Herz! Der Einsatz der Fähigkeit zum Mitgefühl, sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen.
Und – ganz ausdrücklich! – das prophetische Wort: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ (Micha 6, 8)

Erschreckend auch, dass der Reiche all dies überhaupt nicht einzurechnen scheint. Dass sein Lebenswandel, seine Einstellungen zu den Mitmenschen, hier konkret: zu dem armen Lazarus vor der Tür seines Hauses, Konsequenzen haben, scheint ihn völlig zu überraschen.

Deswegen will er seine Brüder warnen lassen. Die scheinen ähnlich zu leben wie er gelebt hat, und ihnen scheint er bessere Einsicht auch nicht zuzutrauen. Er sieht ihre Zukunft dort, wo er jetzt ist.
Nichts verstanden – nichts gefühlt!

Und wieder soll Lazarus sein Diener sein. Immer noch meint der Reiche, über den Armen herrschen zu können. Abraham möge den Armen aussenden, um die Brüder des Reichen zu warnen. – Der Reiche hatte die Warnung „Lazarus“ täglich vor seiner Tür!

Abraham verweist auf Mose und die Propheten, also auf die Heilige Schrift.
Wie mag das den Pharisäern, den Schriftgelehrten, in den Ohren klingen, denen Jesus diese Geschichte erzählt?
Er packt sie beim Schopfe: Ihr kennt euch doch aus in der Schrift. Was braucht ihr also noch für Warnungen?

In der Geschichte selbst gibt sich der Reiche immer noch nicht zufrieden. Ein Toter soll den Lebenden erscheinen. Diesem Zeichen traut der Reiche mehr zu als dem, was jeder Mensch aus der Heiligen Schrift wissen kann.

Alles vergebens! So, mit dieser Antwort Abrahams an den Reichen, endet die Geschichte: „Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.“ (s.o. Lukas 16, 31)

Der Evangelist Lukas hat diese Geschichte überliefert. Nur er, kein anderer Evangelist. Längst war Jesus auferstanden. Aber Lukas meinte wohl, diese mahnende und warnende Geschichte überliefern zu müssen – nach wie vor hat sie ihr Recht.

Jesus verweist laut Lukas auf „Mose und die Propheten“, auf die Heilige Schrift.
So möchte ich uns – im Zusammenhang mit dieser Geschichte – ein weiteres prophetisches Wort in Erinnerung oder neu ins Bewusstsein bringen: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ (Jesaja 58,7)

Das ist es! Daran werden wir neu erinnert: Vor allem an das, worauf es hinausläuft: „entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Daraus folgt doch die Selbstverständlichkeit, die eben nicht immer selbstverständlich genommen wird: Der andere, dem’s schlechter geht, ist ein Mensch wie du, wie ich. Alle sind wir Geschöpfe Gottes. Mit gleicher Würde, mit gleichen Rechten. Alle müssen wir essen und trinken und uns kleiden, ein Dach über dem Kopf haben. Alle brauchen wir Besuch und Ansprache von anderen, wenn wir hilflos oder alleine sind, beispielsweise am Krankenbett oder im Gefängnis – aber nicht nur dort!

Wenn in Jesus Gott einer von uns geworden ist, ein Mensch aus Fleisch und Blut, dann hat der Satz „entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ weitreichende Konsequenzen. Dann führt er nämlich schnurstracks zu dem bekannten Jesuswort: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25, 40b) Da sind wir bei Jesus selbst und dem, wie er uns mit ihm und für ihn zu leben lehrt, mit den Menschen und für die Menschen. Das kommt bei ihm auf dasselbe hinaus. Das reicht für ein erfülltes und erfüllendes, ein gutes und ein gesegnetes Leben.

Jesus – in Gestalt des Lazarus – hat es nach dieser Geschichte nicht erfahren dürfen, menschlich, als Mensch von Menschen gut und würdig behandelt zu werden.

Oft fragen wir uns, was wir tun können – bei so viel Elend und Ungerechtigkeit in der Welt.
Wenn jeder Mensch die Not vor der eigenen Tür sieht und hört, wenn jeder Mensch vor Ort nach seinen Möglichkeiten sich ‚dem eigenen Fleisch und Blut nicht entzieht‘ und ihm seinen Blick schenkt, sein Ohr öffnet, seine Hand reicht (wie gerne täten wir auch dies in diesen Zeiten!) und sein Herz öffnet – wenn dies alles mehr wird als es schon da ist und geschieht – die Welt sähe anders und besser aus. Da haben wir jeden Tag genug zu tun und werden selbst davon profitieren, wenn wir die Hilfe und den Gerechtigkeitssinn anderer benötigen.

Wo ist das Evangelium, die Frohbotschaft dieser Geschichte?
Ich muss da schon suchen, aber man kann fündig werden!
Es können sich wohl nicht alle in gleicher Weise freuen, der reiche Mann, der arme Lazarus, die Brüder des Reichen. Es kommt also auch darauf an, wem wir uns verbunden fühlen. Immerhin lesen wir am Anfang des Lukasevangeliums – und auch wieder nur bei Lukas! – in Marias Lobgesang (Lukas 1, 52-55):
„52 Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.
53 Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.
54 Er gedenkt der Barmherzigkeit
und hilft seinem Diener Israel auf,
55 wie er geredet hat zu unsern Vätern,
Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.“

„… wie er geredet hat …“ – Liebe Gemeinde, das ist die frohe Botschaft, das Evangelium. Wir haben’s doch: „Mose und die Propheten“ (s.o. Lukas 16, 31) – und: Jesus in den Evangelien – und: Paulus und die vielen anderen biblischen Zeugen. ‚Die sollen wir hören.‘ (s.o. Lukas 16, 29) Wir haben das Wort Gottes mit seinen Weisungen und Verheißungen, mit seinem Zuspruch und seinem Anspruch. Wir haben Ohren zu hören und Hände, um zu handeln. Wir leben – und andere sollen es auch. Der Evangelist Johannes überliefert als Wort Jesu: „ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ (in Johannes 14, 19) Darauf zielt das Wort „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“

Gottes Wort ist uns gegeben, dass wir gut und heilsam leben sollen und können in der Gemeinschaft nicht nur der Christenheit, sondern in der Gemeinschaft der Menschheit überhaupt. „… entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Das Wort Gottes ist von belebender Kraft. Ein Segen für alle, die es lesen, hören, beherzigen und nutzen für ein gutes, ein besseres, ein gottgefälliges und menschendienliches Leben. Amen.

Lesepredigt zum Sonntag Trinitatis 2020

Von Pfarrer Andreas Strauch

4. Mose 6, 22-27:
Der priesterliche Segen
22 Und der Herr redete mit Mose und sprach:
23 Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet:
24 Der Herr segne dich und behüte dich;
25 der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;
26 der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.
27 So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.

Liebe Gemeinde,

der Segen weist ins Leben. Deshalb ergeht der Segen am Schluss eines Gottesdienstes. Wie ein Abschiedsgruß mit guten Wünschen und einem liebevollen Nachblick ist er. Zum Mitnehmen und Behalten, soweit wir das können, um Mut und Kraft aus ihm zu schöpfen. An der Schwelle von Gottesdienst und Alltag, von Gottesdienstfeier und Lebensgottesdienst kann der Segen zu einem gelingenden Übergang verhelfen, der beides miteinander verbunden hält.

Es gibt Menschen, denen ist der Segen das Wichtigste am Gottesdienst. Sie spüren in besonderer Weise, was uns allen guttut und was wir brauchen: den Schutz, das Geleit, die Begleitung Gottes für die nächste Wegstrecke.

Dessen müssen wir uns immer neu vergewissern lassen. Zwar ist uns das alles ja von Gott längst zugesagt. Von Gott, der uns ins Leben rief und der unser Leben will. In der Taufe ist der Segen Gottes und seine Verbindung zu uns ausdrücklich besiegelt. Und doch – wir müssen es immer wieder neu hören, neu zugesprochen bekommen. Vielleicht auch, weil wir spüren, dass wir selbst uns immer wieder entfernen von Gott und aus seinem Schutzbereich.

Nicht Gott entfernt sich von uns, wie wir es manchmal denken. Jedenfalls wendet Gott sich nicht ab von uns. Sondern eher schon wir von Gott. Etwa wenn wir gar nicht mehr mit Gott rechnen, wenn wir verzagt und ängstlich sind und uns hundert und tausend Gedanken machen, was uns alles passieren könnte. Wenn uns unsere Sorgen zu zerfressen beginnen. Wenn wir meinen, alles hänge an uns und nur an uns. Dann scheint uns Gott weit weg, und wir finden den Weg zurück zu Gott nur schwer. Gott lässt sich nicht einfach herbeiholen, jedenfalls nicht nach unseren Vorstellungen und Wünschen.

Da ist es gut, wenn sich Gott selbst mit seinem Segen wieder in Erinnerung bringt. Wenn wir uns erinnern lassen: Gottes Segen liegt über uns. Seine Nähe ist uns zugesprochen.

„So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.“ (s.o.: 4. Mose 6, 27) Das ist ein starker Satz. Im Segen verbinden sich Gott und Mensch. Nicht nur, dass Gott Menschen beauftragt, selbst zu segnen, so wie Aaron und seine Söhne diesen Auftrag zu segnen erhalten (s.o.: 4. Mose 6, 23.24). Sondern im Segen selbst, auch wenn er von anderen Menschen weitergegeben wird, verbindet sich Gott direkt mit dem oder der Gesegneten.

Gott legt seinen Namen, den Namen Gottes, auf den gesegneten Menschen ab. Der, die Gesegnete ist ein Gotteskind. Gottes Angesicht leuchtet über dem gesegneten Menschen. Der, die Gesegnete erstrahlt in Gottes Licht.

Können Sie sich erinnern, wie es ist, wenn ein Mensch strahlt? Es geht dann ein Glanz, etwas wirklich Helles und Schönes und Gutes und Freundliches von ihm aus und überträgt sich auf den Menschen, den der strahlende Blick trifft. Kinder insbesondere haben oft einen strahlenden Blick, aber nicht nur sie. Auch bei ganz alten Menschen kann man das manchmal in sehr anrührender Weise erleben, im Grund aber bei Menschen jeden Lebensalters. Dieser Blick lässt einen nicht unberührt, und unter Gottes leuchtendem Angesicht blieben wir nicht einfach, wie wir sind. Ausgestattet mit Gottes Segen, angestrahlt von Gott, können wir unserer Wege ziehen und unseren Lebensweg als Ganzen Schritt für Schritt beschreiten.

Von Gott behütet – kann uns dann nichts mehr zustoßen? Da haben unsere Lebenserfahrungen uns doch ganz anderes gezeigt und gelehrt, oder nicht? Nur: Wir merken vor allem, wenn uns etwas quer geht, wenn etwas stört, nicht so kommt, wie wir es wollten, geplant oder vorbereitet haben. Merken wir aber auch, wie oft an nur einem einzigen Tag wir wirklich bewahrt bleiben? Wir lesen und hören von Unglück, Unfällen, Schicksalsschlägen, Krankheiten, Katastrophen in der Nähe und in der Ferne, und uns selbst ist so oft wieder ein Tag geschenkt worden, an dem es uns an nichts Wesentlichem gefehlt hat und wir gut leben konnten, alles Notwendige und vieles mehr hatten und noch manches gute und liebe Wort gehört haben, das uns aufgebaut und weitergeführt hat. Wir fragen: Wo ist Gott? Und gleichzeitig nehmen wir völlig selbstverständlich Gottes täglichen Wohltaten in Empfang.

Aber: Es gibt doch Krankheit und Schmerzen, Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, Existenzbedrohungen, Misserfolg, Trennung, Tod und Trauer. Auch bei uns. Viele Menschen spüren gerade in solchen schwierigen Lebenslagen, dass sie immer noch – jetzt vielleicht sogar in ganz besonderer Weise – getragen werden und Kraft bekommen. Sie fühlen sich jetzt in dem Schweren bewahrt und gestärkt, vielleicht auch, weil jetzt nicht mehr alles einfach so selbstverständlich ist. Sie haben jetzt ihren Blick geschärft für all das Gute, das sie immer noch bekommen, in allen Schwierigkeiten.

Gott ist jetzt nicht weg, sondern gerade da: helfend, tröstend, stärkend, neue Wege zeigend. Oft in Gestalt von Menschen, von denen man das vorher gar nicht unbedingt erwartet hätte. Sie wirken segensreich. Sie werden zum Segen. In ihnen zeigt sich Gottes Segen überdeutlich.

Unter dem Segen Gottes hatte das Volk Israel seine lange Wüstenwanderung mit vielen Entbehrungen und Durststrecken bestanden. Alles in allem war es währenddessen immer wieder bewahrt und versorgt und gelangte schließlich ins Gelobte Land. Gottes Segen wirkte im Schweren und im Guten.

Gerade weil kein Menschenleben nur glatt und geradlinig verläuft, brauchen wir die Gewissheit des Gottessegens. Damit wir uns im Schweren und Abgründigen nicht verlieren. Auch im ‚finsteren Tal‘ (Ps. 23) dürfen wir Gott bei uns wissen. Auch wenn der Weg aus dem ‚finsteren Tal‘ uns nicht mehr an das Licht unserer Sonne führt. Gottes Segen weist über unser irdisches Leben hinaus. Gottes leuchtendes Angesicht bleibt mit seinem Segen über uns.

Und: Frieden will der Segen übermitteln und zueignen. Das haben wir immer wieder neu nötig. Die Zueignung des Gottesfriedens bedeutet auch Aufgabe und Verpflichtung für uns. Frieden will erarbeitet und erhalten werden. Wörter wie ‚Friedensbemühungen‘, ‚Friedensverhandlungen‘, ja sogar – merkwürdige Maßstäbe! – ‚Friedenstruppen‘ zeigen ja, wie viel mühseliger Arbeit es bedarf und welche umstrittenen und riskanten Mittel mitunter gewählt werden, um auf Frieden mit Aussicht auf eine gewisse Dauer hinzuwirken.

Als Gesegnete, als solche, die wir von Gott in Gottes Frieden eingewiesen werden, können und sollen auch wir selbst zum Frieden in unserer Umgebung beitragen. Unsere Umgebung: das ist z.B. die Familie mit ihren verschiedenen Generationen (Ehepartner, Kinder und Eltern, Enkel und Großeltern, die Familie des Partners, der Partnerin), dann: der Arbeitsplatz, der Kindergarten, die Schule, die Nachbarschaft, die Gemeinde, das Dorf, die Stadt. Mit den Friedensanstrengungen und Friedensangeboten in unserer Umgebung gehen wir auch schon die ersten und entscheidenden Schritte für den Frieden in unserer Gesellschaft und auf der Welt.

Der Segen spricht freundlich zu uns: Gott wendet uns sein Angesicht zu. Wir sind in Gottes Blick. Das ist ein bewahrender und gnädiger Blick: wohlwollend, sorgend, schützend, freundlich. „Nie sind wir allein, stets sind wir die Deinen“ heißt es in einem Segenslied, und im weiteren Verlauf: „Frieden gabst du schon, Frieden muss noch werden.“ (EG 170)

In Jesus Christus hat Gott den Menschen noch einmal in ganz anderer, ganz intensiver Weise sein Angesicht zugewendet. Gott war in Jesus erschienen: zum Anschauen – und zum Anfassen. Gott ließ sich sehen und begreifen: als Mensch, der die Menschen mit sich und miteinander versöhnte und die Friedensstifter seligpries, weil diese etwas von seinem Reich verwirklichen.

Vor zweieinhalb Wochen war das Fest Christi Himmelfahrt. Jesus segnete seine Jünger vor, ja noch bei seiner Himmelfahrt. So lesen wir es zum Schluss des Lukas-Evangeliums (Lukas 24, 50.51). Das ist es, was Jesus seinen Jüngern zum Abschied gibt: seinen Segen – noch bevor sie mit dem Heiligen Geist beschenkt werden.

Der Segen bleibt und gilt allen, die Jesus nachfolgten oder nachfolgen – durch die Zeiten. Unter seinem Segen geschützt und geborgen und freundlich angeschaut, dürfen wir leben: und ausgestattet mit dem Heiligen Geist bleiben wir mit ihm, mit seinem Vater, der auch unser Vater ist, und untereinander verbunden in seinem Frieden, der weiter reicht als alle menschliche Bemühungen und höher ist als alle menschliche Vernunft. Amen.

Psalmen singen

„Zwischen Pfingsten und dem Ende des Kirchenjahres sind es in diesem Jahr genau 22 Sonntage. Das bietet die Möglichkeit, jede Woche eine der 22 Strophen von Psalm 119 – entlang den 22 Buchtstaben des hebräischen Alphabets, Alef bis Taw – zu singen und zu meditieren. Der Psalm besingt immer wieder neu die Tora, die Weisung Gottes. Den Strophen von Psalm 119 stellen wir 22 Abschnitte der Weisung der Bergpredigt aus dem Matthäusevangelium zur Seite. Über Psalm 119 sagt Martin Luther, er sei „ein geistlich göttlich Spiel, das man täglich üben soll“. Das gilt ganz bestimmt genauso für die Bergpredigt. Die Psalmen erklingen in der Weise der Responsorialen Psalmodie, des Psalmodierens mit einem Antwortruf. Ein Ruf – ein Herzwort des Psalms – wird immer wieder wiederholt, verinnerlicht, meditiert. Die Übersetzung der Psalmen folgt dem „Münsterschwarzacher Psalter“. Die „Preisungen – Psalmen mit Antwortrufen“ und „Cantica – Biblische Gesänge mit Antwortrufen“ sind im Vier-Türme-Verlag Münsterschwarzach erschienen (www.vier-tuerme-verlag.de). Die Bergpredigt erklingt in der Übertragung von Walter Jens (Die vier Evangelien, Radius-Verlag Stuttgart 2003). Es liest Reiner Unglaub (www.reiner-unglaub.de). Das Bild zum Psalmvers „Selig, die seine Zeugnisse wahren, die ihn von ganzem Herzen suchen.“ ist dem „Stuttgarter Psalter“ entnommen, einer Psalterhandschrift vom Anfang des 9. Jahrhunderts, die heute in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart aufbewahrt wird. “ www.stillezeiten.de (Zitat aus: https://www.youtube.com/watch?v=3PNcr5OYg8c&feature=youtu.be )