Lesepredigt zu Pfingsten 2020

Von Pfarrer Andreas Strauch

Apostelgeschichte 2, 1-21:
Das Pfingstwunder
1 Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort.
2 Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen.
3 Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen,
4 und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab.
5 Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel.
6 Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.
7 Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer?
8 Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache?
9 Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia,
10 Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen,
11 Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.
12 Sie entsetzten sich aber alle und waren ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden?
13 Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weins.
Die Pfingstpredigt des Petrus
14 Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, vernehmt meine Worte!
15 Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde des Tages;
16 sondern das ist’s, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist (Joel 3,1-5):
17 »Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben;
18 und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen.
19 Und ich will Wunder tun oben am Himmel und Zeichen unten auf Erden, Blut und Feuer und Rauchdampf;
20 die Sonne soll in Finsternis verwandelt werden und der Mond in Blut, ehe der große und herrliche Tag des Herrn kommt.
21 Und es soll geschehen: Wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll gerettet werden.«

Liebe Gemeinde,

Pfingsten – das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes;
Pfingsten – das Fest des Geburtstages der Kirche;
Pfingsten – das Fest, das so schwer zu begreifen, zu verstehen, zu erklären ist;
Pfingsten – das Fest (fast) ohne Bräuche;
Pfingsten – das dritte große Fest im Kirchenjahr neben Weihnachten und Karfreitag/ Ostern;
Pfingsten – das wichtigste Fest am Ende;
Pfingsten – das Fest der Verlegenheit, der Ratlosigkeit;
Pfingsten – das Fest der Begeisterung;
Pfingsten – das Fest der Natur;
Pfingsten – das „liebliche Fest“ (Goethe);
Pfingsten – das Fest der Einheit;
Pfingsten – das Fest der Vielfalt;
Pfingsten – das Fest der versöhnten Verschiedenheit;
Pfingsten – das Fest … …;
Pfingsten – das Fest … … !?

Was ist Pfingsten für Sie, für euch?

Der Heilige Geist lässt sich nicht begreifen, nicht anfassen, nicht festlegen. Man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht, man kann ihn aber spüren. Oder spüren, wenn und wie er wirkt. Der Heilige Geist weht, wann und wo er will. Er kann überraschen, beleben, verändern, Neues bringen, beruhigen, trösten. Er kann gewohnte Denk- und Glaubensmuster erweitern, aufbrechen, in Frage stellen, aber auch wieder neu bestätigen.

Und wie sieht es mit Pfingsten als Geburtstagsfest der Kirche aus? Man kann schon fragen: Hat die Christenheit sich dem Wirken des Geistes in den Weg gestellt, so sehr und so hartnäckig, dass der Geist seine verbindende und einigende Kraft nicht oder nur ansatzweise und gehindert entfalten konnte und kann? Wo es doch so viele Konfessionen und Richtungen innerhalb des Christentums gibt: Orthodox, Römisch-katholisch, Anglikanisch, Evangelisch – mit allen Strömungen: z.B.: griechisch-orthodox, russisch-orthodox; oder: der völlig unterschiedlich gelebte Katholizismus etwa in Mitteleuropa oder in Südeuropa, erst recht in Lateinamerika; im Protestantismus wiederum gibt es die lutherische, die reformierte, die unierte Prägung, es gibt die diversen Freikirchen und freien Gemeinden und Versammlungen, die in sich auch wieder sehr unterschiedlich sind.

Ist diese Vielfalt ein Ärgernis, weil eine Einheit mitunter nur schwerlich zu erkennen ist? Oder ist diese Vielfalt gerade im Gegenteil ein Zeichen für das vielfältige, immer wieder neue und kreative Wirken des Heiligen Geistes?

Ist die Einheit der Kirche am Ende gerade diese Gesamtheit der unterschiedlichen Richtungen und Ausprägungen des Christentums? Ergeben gerade erst die vielen Teile ein Ganzes? Kann es nicht sein: Jedes Teil, jede Richtung, jede Konfession, jede Gemeinde verkörpert einen besonderen Gesichtspunkt des Glaubens, der einen Kirche?

Und wie steht’s mit den Bräuchen zum Pfingstfest? Bräuche und Rituale gehören schließlich zur Feier eines Festes hinzu. Bei Weihnachten und Ostern gibt es das vielfältig, und in jeder Familie und jeder Gemeinde gibt es ganz bestimmte eigene Gewohnheiten, oft über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Und natürlich gibt es allgemein verbreitete Festbräuche: Weihnachtsbaum, Ostereier – beide sind nicht einmal christlichen Ursprungs, aber auf die christlichen Feste bezogen und in sie integriert. Sichtbare, sinnlich erfahrbare Bräuche sind wichtig, nicht nur für Kinder, denn so wird das Gefühl angesprochen und angeregt. Ein Fest will eben ganzheitlich begangen werden, nicht lediglich vom Kopf her ‚verstanden‘, sondern auch und erst recht will das Fest erlebt, gelebt werden. Für Pfingsten ist das sicherlich schwieriger. Zwar gibt es familiäre Traditionen: Pfingstspaziergänge, heute eher: Pfingsturlaube. Es gibt auch lokale und regionale Bräuche (Pfingstbaum, Pfingstfeuer). Aber all dies ist lang nicht so verbreitet, nicht so populär und nicht so spezifisch und einprägsam wie bei Weihnachten und Ostern. Dabei sollte doch gerade Pfingsten wirklich auch die Emotionen bewegen, eben: begeisternd, beflügelnd wirken. Da gibt es unbestreitbar Defizite. Und so wird auch der Zugang zur Bedeutung und zur Festerzählung (s.o.: Apostelgeschichte 2) des dritten großen Festes neben Weihnachten und Karfreitag/ Ostern erschwert.

Im Mittelalter war das anders. Da ließ man schon mal eine Taube durch die Kirche fliegen. Die Taube verkörpert ja in der Bibel den Heiligen Geist, so bei Jesu Taufe.
Oder: In Sizilien ließ man rote Rosen von oben in die Kirche fallen. Sie symbolisierten die Zungen, die Flammen des Feuers, von denen in der Pfingsterzählung die Rede ist (s.o.: Apostelgeschichte 2,3). Dieser einfache Brauch hat einen direkten Bezug auf die biblische Geschichte, die Festerzählung zu Pfingsten.

Menschen verschiedenster Herkunft und Sprachen, in den Versen 9-11 (s.o.) detailfreudig aufgezählt, waren zusammen, wie jedes Jahr, in Jerusalem, so ist es in der biblischen Pfingstgeschichte (Apostelgeschichte 2) dargestellt. Sie feierten – 50 Tage nach dem Passahfest – nun das Wochenfest, eben das Pfingstfest, ein jüdisches Fest zum Beginn der Ernte, ein Dank- und ein Freudenfest. Aber diesmal war es besonders: Das Fest überwältigte die Feiernden, es ergriff sie, es verwandelte sie von Grund auf. Denn es geschah etwas absolut Außergewöhnliches und Unvorhersehbares. Und noch erstaunlicher als das, was sie hörten und sahen, Brausen und gewaltigen Wind, Zungen wie Feuerflammen auf ihren Köpfen, noch erstaunlicher als das war die Wirkung. Alles wurde anders: Das Trennende war aufgehoben. Die Menschen verschiedenster Herkunft und Sprachen verstanden nun einander. Aber nicht weil sie auf einmal alle die gleiche Sprache gesprochen hätten. Sie konnten vielmehr nun auch „in andern Sprachen“ (Vers 4) sprechen – sie predigten! – und sie verstanden sich gegenseitig in ihren eigenen Sprachen: „ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.“ (Vers 6b) – Sozusagen eine vielfache Simultanübersetzung! Jeder Mensch konnte sich verständlich machen, jeder Mensch konnte alle und alles verstehen, als wär’s gerade für ihn, gerade für sie gesprochen: Pfingsten – das Fest der Verständigung!

Und die Menschen hatten lediglich ein Thema: sicherlich auch durch das Erntefest geprägt, aber erst recht wohl als Wirkung des Wunders an diesem besonderen Pfingstfest: ein Thema also: das Thema, das durch aller Munde in allen Sprachen in alle Ohren ging, direkt verständlich: dieses eine Thema war: „die großen Taten Gottes“ (Apostelgeschichte 2, 11).

Da mögen sie geredet – und sich zugehört – haben von der Erschaffung der Welt, von der Befreiung aus Ägypten, vom dem Gesetz und den Geboten, die Gott seinem Volk gegeben hatte, von Führung und Bewahrung in dessen wechselvoller Geschichte durch den treuen Gott, der sich immer wieder zu seinem Volk und dem Bund mit ihm bekannt hatte.

Und sie mögen gesprochen und gehört haben von den „großen Taten Gottes“ in ihrem eigenen Leben, dem kleinen gewöhnlichen Leben, das durch die großen Taten Gottes so groß und wertvoll war: das Geschenk der Gesundheit, das Geschenk der Familie, das Geschenk des Auskommens, das Geschenk der Zufriedenheit, das Geschenk des Segens Gottes, der auf ihrem Leben lag.

Ob sie auch über Jesus von Nazareth gesprochen haben, die ‚große Tat Gottes‘ schlechthin?

„Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: …“ (Apostelgeschichte 2, 14a). Jetzt folgt seine Predigt. Petrus sieht in dem Pfingstwunder die Erfüllung einer Verheißung. Der Prophet Joel hatte die Ausgießung des Gottesgeistes durch Gott selbst angesagt.

Aber dem Leser, der Leserin von Lukas‘ Apostelgeschichte ist sicherlich auch das Jesuswort vor seiner Himmelfahrt in Erinnerung, das Lukas im ersten Kapitel, Vers 8, überliefert: „ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.“ So spricht Petrus im weiteren Verlauf seiner Predigt von Jesus, seinem Kreuzestod, seiner Auferweckung durch Gott. Petrus deutet das Pfingstwunder noch einmal neu. Er bindet Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten zusammen: „Diesen Jesus hat Gott auferweckt; des sind wir alle Zeugen. Da er nun durch die rechte Hand Gottes erhöht ist und empfangen hat den verheißenen Heiligen Geist vom Vater, hat er diesen ausgegossen, wie ihr seht und hört.“ (Apostelgeschichte 2, 32.33) – Jetzt ist Pfingsten auch ein christliches Fest!

Der Geist Gottes kann Christenmenschen beflügeln und ihren Willen stärken und vorantreiben, einander zu verstehen. Auch unser Thema, worüber wir uns als Christen und Christinnen austauschen und verständigen, sollte sein: „die großen Taten Gottes“.

Petrus weist seine Hörer und Hörerinnen damals und uns heute ein: Kreuz und Auferstehung – das ist ‚die große Tat Gottes‘. Petrus und die anderen wurden nach der Predigt gefragt: „was sollen wir tun?“ (Apostelgeschichte 2, 37) Petrus ruft auf zur Buße und Taufe und verheißt ihnen so den ‚Empfang der Gabe des Heiligen Geistes‘ (V. 38).

Als Geistbegabte können Christenmenschen, können wir eine Fähigkeit entdecken, entwickeln, trainieren: die Fähigkeit, einander zu verstehen, andere also in deren Sprache so zu verstehen, als sei es direkt für uns übersetzt. Dabei muss es sich nicht einmal um Fremdsprachen handeln.

Auch in Fragen des Glaubens reden wir oft aneinander vorbei, missverstehen uns, misstrauen einander manchmal sogar. Schon innerhalb einer Gemeinde kommt das vor, erst recht zwischen den verschiedenen Gemeinden, Konfessionen und Kirchen.

Dabei, wenn Christen es ernst meinen, reden sie doch alle von den „großen Taten Gottes“. Sie loben Gott und danken Gott. Sie bitten um ‚Vergebung von Schuld und Erlösung von dem Bösen‘ (Vaterunser). Sie bitten voller Vertrauen, glaubend – für sich selbst und für andere – um Vergebung der Sünden (Glaubensbekenntnis). So wollen sie zu Gott, neu zu Gott finden.

Die Sprachen klingen unterschiedlich: die Liturgien, die Gottesdienste überhaupt, die Art zu beten und Worte im Gebet zu finden, das Miteinander in den Kirchen und Gemeinden – das alles ist verschieden und vielfältig. Oft kann man in all dem spüren: den Geist der Verständigung.

Wenn man einmal in einer anderen Gemeinde zu Gast ist oder am Urlaubsort den Gottesdienst besucht in der der Kirche, die eben gerade dort steht, dann kann man einiges verstehen und wiedererkennen: das Vaterunser, vertraute Elemente des Gottesdienstes. Man kann auch den guten und schönen, den herzlichen und liebevollen Umgang der Menschen in der dortigen Gemeinde wahrnehmen und erfährt ihn vielleicht auch selbst. Man kann Verständigung erleben. Die Sprache der anderen kann verständlich werden, selbst-verständlich! Und auch wir können uns verständlich machen und die Erfahrung machen, selbst verstanden zu werden.

Rote Rosen in Sizilien! Vom Himmel (symbolisch), von der Kirchendecke (tatsächlich) fallen sie herab zu Pfingsten in Sizilien, dort jedenfalls, wo dieser alte und schöne Brauch noch geübt wird. Rote Rosen! Rote Rosen schenken Liebende einander. So mag das Symbol noch tiefer gehen. Es steht für den Heiligen Geist, der ein Geist der Liebe ist. Die Liebe übersetzt uns Worte, den Glauben der anderen und schenkt gegenseitiges Verstehen. Sie stärkt uns in unserem eigenen Glauben und lässt uns den der anderen akzeptieren.

Sprachen lassen sich nicht eins zu eins über setzten. In jeder Sprache liegt eine etwas andere, eine eigene Art des Denkens und Fühlens. Insofern ergänzen sich die verschiedenen Sprachen. Zum Verständnis ist nicht nur das wörtliche Verstehen nötig. Es kommt auch und vor allem darauf an, sich gegenseitig ineinander einzufühlen, hineinzuversetzen. Liebende, miteinander Vertraute wissen das und spüren das und tun das. Ihre Kommunikation blickt tiefer als der reine Wortlaut. Der Geist der Liebe kann Christenmenschen helfen und stärken, einander zu verstehen und verstehen zu wollen.

Der Geist der Liebe kann sogar entgrenzen und helfen, als Christenmenschen den anderen Religionen respektvoll, geschwisterlich zu begegnen – mit all ihrem uns Fremden und auch dem Gemeinsamen: Dem Gedanken der Humanität und des Friedens sind alle Weltreligionen verpflichtet. Aber keine geht darin schon auf. Der Geist der Liebe ist auch der Geist der Wahrheit. Ein kritischer Geist. Liebe heißt nicht Anpassung, nicht Einebnung, nicht Nivellierung von Unterschieden und Gegensätzen, nicht Aufgabe des Eigenen, des Selbst: sondern im Selbstbewusstsein des Eigenen, gegründet im Gottvertrauen, das Wagnis der Verständigung mit Mut und Herz einzugehen. Das gelingt uns schwer aus eigener Kraft. Dazu brauchen wir den Geist Gottes. Dazu brauchen wir Pfingsten. Sanft und beharrlich kann das gehen, wie ich dem Wochenspruch zu Pfingsten entnehme: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“ (Sacharja 4, 6b)

Gottes Geist, der Heilige Geist, Pfingsten öffne uns den Blick und schenke uns das Gespür für das Verbindende und Gemeinsame der Menschen auf dieser Erde, das doch immer stärker bleibt als alle Unterschiede.

Gottes Geist, der Heilige Geist, Pfingsten schenke weltweit Verständigung und die Bereitschaft dazu, wenn es neu auszuhandeln gilt, wie die Menschheit weiterhin bzw. neu und anders miteinander gedeihlich, gerecht und im Frieden mit der Schöpfung und ihrem Schöpfer leben kann und will.

Wir leben von den „großen Taten Gottes“. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen: Frohe und gesegnete Pfingsten! Amen.