Gedanken zum Dritten Sonntag nach Ostern 2020 – von Pfarrer Andreas Strauch
Heute, am 3. Mai 2020, ist der dritte Sonntag nach Ostern – mit dem Namen „Jubilate“ (= „Jubelt“). Er liegt mitten in der österlichen Freudenzeit. Osterfreude kommt natürlich besonders in den Osterliedern zum Ausdruck, zum Klingen. Viele von ihnen sind im beschwingten Dreiertakt komponiert. Viele haben eine aufsteigende Melodieführung, die uns sozusagen mitnimmt in die himmlischen Sphären. Einige aber klingen auch eher herb, für unser heutiges Empfinden jedenfalls – trotz Dreiertakt und trotz aufsteigender Melodieführung. Dies kann dem Umstand geschuldet sein, dass die Osterfreude noch nicht ungebrochen, ungetrübt sein kann. Sie will hervorbrechen aus Tod, Traurigkeit und Trauer, aus Erstarrung, Stillstand, Lähmung und Sorge. Aber sie muss eben auch hervorbrechen, sich manchmal mühsam ihren Weg bahnen. In diesem Jahr 2020 ganz besonders. Keines der Osterlieder haben wir gemeinsam, von der Orgel inspiriert, singen können in unseren Kirchen. Wir konnten dort ja gar nicht Ostern feiern. Dennoch und erst recht: „Jubilate“, jubelt, lobt, preist Gott, lasst der Osterfreude Raum, so gut es eben geht, am besten noch ein bisschen besser.
Nehmen wir dazu eines der beiden Wochenlieder für die Woche ab dem Sonntag „Jubilate“: Ich möchte Ihren Blick, Ihr Ohr, Ihr Herz, am liebsten auch Ihre Stimme, auf das Lied 110 im Evangelischen Gesangbuch (EG) richten. Es zählt nicht zu den bekannten Osterliedern. Mit vielen Osterliedern hat es gemeinsam den Dreiertakt, die schnell aufsteigende Melodie, wenngleich die Höhe nicht gehalten wird und die Melodie die Singenden wieder von der erreichten Höhe in die Niederungen des Lebens führt. Auch in diesem eher herben Osterlied bricht sich der Jubel Bahn. Es ist nicht schwer zu singen und vor allem auch nicht schwer zu verstehen. Ich mag es sehr, finde es wunderschön: kurz und schlicht, leicht und eingängig. Und es hat eine Besonderheit gegenüber allen anderen Osterliedern unseres Gesangbuches, ein Alleinstellungsmerkmal, etwas Unverwechselbares!
Es entstand im Jahre 1623 und stammt von dem bedeutenden katholischen Lieddichter Friedrich Spee. Er ist einer der wenigen katholischen Dichter, dessen Texte sich in bekannten Liedern in unserem Evangelischen Gesangbuch finden, so stammt das Adventslied „O Heiland, reiß die Himmel auf“ (EG 7) größtenteils aus seiner Feder und komplett das Weihnachtslied „Zu Bethlehem geboren“ (EG 32), schließlich auch die erste Strophe der Passionsliedes „O Traurigkeit, o Herzeleid!“ (EG 80). Friedrich Spee stellte sich mutig gegen Hexenverfolgungen und Hexenprozesse, die es in jener Zeit durchaus noch gab. Das war sein Kampf für das Leben gegen den Tod. – Nun also zu seinem Osterlied, das seinen anderen Liedern in unserem Gesangbuch – wie auch vielen anderen Osterliedern unseres Gesangbuches – gegenüber an Bekanntheit zurücksteht. Die besondere Wertschätzung als Wochenlied des Sonntages „Jubilate“ erfährt es übrigens erst seit Neustem.
„Die ganze Welt, Herr Jesu Christ,/ Halleluja, Halleluja,/ in deiner Urständ (=Auferstehung) fröhlich ist. / Halleluja, Halleluja.“ (Str. 1 und 6) Alle sechs Strophen bestehen aus diesem Wechsel von Text- und Halleluja-Zeilen. Man kann sich eine Prozession zum Auferstehungswunder vorstellen: Der Vorsänger oder die Vorsängerin singt die Textzeile, das Volk, die Gemeinde, eine große oder eine kleine Ansammlung von Menschen antwortet mit den doppelten Halleluja-Rufen.
Die Rahmenstrophen besingen den unendlichen Klangraum des Osterjubels: die ganze Welt. Auferstehungshoffnung, Osterfreude erfüllen die Schöpfung. Nicht alle können zu jeder Zeit mitsingen und mitjubeln. Dieses Jahr ist es sicherlich für viel mehr Menschen als sonst schwierig. Osterfreude kann auch stellvertretend zum Klingen gebracht werden: von denen, die es gerade (noch oder wieder) können, für diejenigen, die es (zurzeit) nicht können. Die Welt freut sich nämlich nicht über die Auferstehung, sondern – feiner Unterschied! – in ihr. Was mit Ostern geschehen ist, ist präsent und wirkt, umfasst und durchdringt das Leben – auch angesichts von Sterben, Tod und Trauer und alldem, was uns einzwängt und niederhält. Dies singend zuversichtlich zu bekennen, ist Gebet („in deiner Urständ“).
Christi Auferstehung lenkt unseren Blick, besser: unser Ohr, nach oben. „Das himmlisch Heer im Himmel singt“; „die Christenheit auf Erden klingt.“ (Str. 2) Ihren Höhepunkt erreicht die Melodie im „Himmel“, bevor sie wieder an Höhe verliert und „auf Erden“ ankommt. Auferstehungsglaube und Osterjubel führen uns über uns selbst hinaus. Die Musik nimmt uns mit in Sphären, die uns ohne sie unzugänglich blieben. Die Welt voll Gesang, voll Musik: Der himmlische Gesang klingt und hallt wider im Gesang, in der Musik der Menschen, der christlichen Gemeinde.
Auf der Erde angekommen, zeigt das Lied hier nun Bilder für die Auferstehung – anrührend schlicht. Das Wiedererwachen der Natur ist Gleichnis für die Auferstehung. Als einziges Osterlied unseres Gesangbuches wagt das Lied 110 diese Anschauung. Ohne jede Erklärung. Inmitten des Osterjubels besingt es einfach den Frühling – und die Frühlingsmusik der Kreatur. „Jetzt grünet, was nur grünen kann“; „die Bäum zu blühen fangen an.“ – „Es singen jetzt die Vögel all“; „jetzt singt und klingt die Nachtigall.“ (Str. 3 und 4) Vor einigen Jahr konnte man an verschneiten Ostertagen die Vögel über den schneebedeckten Wiesen singen hören. Aus dem Schnee ragten grüne Halme. Osterbilder, Ostermusik vor der Haustür! In diesen Tagen des Jahres 2020 singen die Vögel – oder kommt es mir nur so vor? – besonders laut. Ich freue mich daran und frage mich so manches Mal, staunend, nicht ohne die Antwort ja doch zu wissen: Die Vögel singen so laut, so schön, so anhaltend – wissen die denn gar nicht, was die Menschen auf der ganzen Welt derzeit so quält und niederdrückt? Aber die Vögel singen – wieder und weiter, vielleicht extra besonders schön in diesem Jahr!? Auch in diesem Jahr 2020 war Ostern, ist Ostern, bleibt Ostern wirksam und gibt es die österliche Freudenzeit.
Hier eine kleine Nebenbemerkung: Im Vorgängergesangbuch zu unserem jetzigen fand sich dieses Lied in der Rubrik „Jahreszeiten“, es wurde dort offensichtlich als reines Frühlingslied verstanden. Zwar wurden immer wieder Ostern und das Aufblühen der Natur miteinander in Verbindung gebracht. Aber die allermeisten unserer Osterlieder haben eine Scheu davor. Schien ihnen diese Form der Osteranschauung doch zu schlicht, dass sie sich nicht trauten, sie in Worte zu fassen? Und ist es umgekehrt nicht eine Überhöhung der Naturschönheit, wenn man sie mit dem Auferstehungsgeschehen in Verbindung bringt? Und tatsächlich: Unser Lied spricht ja auch nur unauffällig, quasi nebenbei, aber eben doch unüberhörbar und an herausgehobener Stelle, von der Auferstehung: Nur in den Rahmenstrophen – diese aber umschließen das ganze Lied: setzen schon am Anfang den entscheidenden Akzent und bestätigen diesen abschließend noch einmal – am Anfang und am Ende des Liedes also kommt das Wort nun doch ausdrücklich vor (in seiner altertümlichen Fassung: „Urständ“). Nur: Ist Ostern ein weltumfassendes Geschehen, betrifft Ostern die ganze Schöpfung: Himmel und Erde, Menschen, Tiere, Pflanzen, dann ist es ja gut und schön, passend und angemessen, legitim und sachgerecht, dies auch konkret – wie in diesem Lied eben – zu besingen: Osterfreude und Frühlingsfreude passen zusammen und fallen in diesem Lied zusammen. Der Frühling steht für erwachendes Leben, er lässt den Winter, der für Erstarrung, ja Lebensbedrohung steht, hinter sich. Wenn es Schnee gab, wird ihn irgendwann unweigerlich die Sonne zum Schmelzen und Verschwinden bringen. Die Naturphänomene werden ganz selbstverständlich und selbsterklärend, ohne jeden begrifflichen Aufwand, auf Ostern hin gedeutet.
So besingt das Osterlied das österliche Licht. „Der Sonnenschein jetzt kommt herein“; „und gibt der Welt ein‘ neuen Schein.“ (Str. 5) Das klingt ja kaum anders als wie im bekannten Weihnachtslied „Gelobet seist du Jesu Christ“ (EG 23), dessen Text größtenteils vom Reformator Martin Luther stammt. Die vierte Strophe dort beginnt ganz ähnlich: „Das ewig Licht geht da herein,/ gibt der Welt ein‘ neuen Schein“. Der Sonnenschein des Frühlings weist in unserem Osterlied – in unausgesprochener ökumenischer Einigkeit – symbolisch hin auf Jesus Christus, das „ewig Licht“ (Weihnachtslied), der von sich sagt (Johannes 8, 12): „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Ein Satz, der unser Leben hell macht und zugleich über unser irdisches Leben hinausweist und aus Gottes Ewigkeit leuchtet.
Christen mögen auch in der Frühlingssonne Gottes Lebenswillen erkennen. Sie bescheint die erwachende Natur. Die grünende Pflanze streckt sich nach ihrem Licht. Ostern geschah „am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging.“ (Markus 16, 2) Jeder Sonntag ist ein kleines Osterfest. Leben in der Auferstehungshoffnung, erfüllt von Osterfreude, richtet sich jubelnd, singend und betend auf Gott: „Die ganze Welt, Herr Jesu Christ,/ Halleluja, Halleluja,/ in deiner Urständ fröhlich ist. / Halleluja, Halleluja.“